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ZUR EINFÜHRUNG Ivan Rezäc, im Jahre 1924 in Revnice bei Prag geboren, gehört seit den 60er Jahren zu den bedeutendsten Repräsentanten des tschechischen Musikle bens. Nachdem er sich anfangs dem Klavierspiel gewidmet hatte - seine Lehrer waren die Professoren Frantisek Rauch und Josef Pälenicek trat er schließlich aus der Klavierabteilung der Prager Akademie der musischen Künste in die Kompositionsabteilung zu Prof. Vaclav Dobias über, bei dem er sein Studium absolvierte und 1960 eine Aspirantur beendete. Heute lehrt er selbst als Dozent an der Akademie der musischen Künste zu Prag und ist zugleich Direktor der Prager Sinfoniker. Schon in seiner Studienzeit und während der künstlerischen Aspirantur trat Ivan Rezäc mit vielbeachteten Kompositionen hervor, so mit Sinfonischen Variationen für Ochester und dem 1. Klavierkonzert, Arbeiten, die freilich noch Vorbilder wie Schostakowitsch und Prokofjew erkennen ließen. Bald jedoch prägten sich in seinem Schaffen, das inzwischen verschiedene sinfonische und konzertante Werke, Kompositionen für Soloinstrumente und kammermusikalische Besetzungen sowie Lieder, aber auch Bühnen- und Filmmusiken umfaßt, die Merkmale einer indi viduellen Handschrift aus, dies vor allem in den Arbeiten des letzten Jahrzehnts, die nicht nur in der CSSR, sondern auch im Ausland eine starke Resonanz fanden. Seine Sinfonietta „Heimkehr" für Cello und Orchester, das 2. Klavierkonzert, die 2. Sinfonie und eine Reihe von Kammermusikwerken zeigen einen tief reflexiven Intellekt, der, von der gründlichen Kenntnis der europäischen Musik des 20. Jahr hunderts ausgehend, eine ganz persönliche schöpferische Konzeption entfaltet, die Anregungen der Tradition, denen eine neue Bedeutung verliehen wird, zu einem gesellschaftlich engagierten, aktiven und musikalisch markanten Ausdruck erweiternd. Rezäcs Intellekt beengt jedoch in keiner Weise die musikantische Spontaneität, noch beraubt sie seine Musik eines tiefen Gefühlsgehaltes. Diese Merkmale weist auch sein bisher letztes, in den Sommermonaten des Jahres 1973 geschaffenes Orchesterwerk auf, die Sinfonietta mit dem Untertitel „Der Engel auf dem Müllhaufen“. Der Gedankengehalt des Werkes, das der Bezeichnung nach in das Gebiet der absoluten Musik gehört, ist durch den Untertitel gegeben. Den inspiratorischen Impuls charakterisierte der Autor mit folgenden Worten: „. . . ich habe ihn gesehen. Er stand auf dem Müllhaufen beim Friedhof und blickte mit blinden Augen in die Welt, die ihm nicht gehört." Die Komposition ist nicht konsequent in selbständige musikalische Sätze geteilt; ihre Musik, die im wesentlichen aus einem einzigen, melodisch weitatmigen Thema hervorgeht, ist innerlich nur durch einige Abwandlungen der beiden grund legenden Tempi differenziert. Das meditative Andante sostenuto wird zweimal von einem Allegro assai abgelöst, um am Schluß wieder zu einer langsamen Sostenuto-Reminiszenz zurückzukehren. Das musikalische Geschehen bestimmen nur zwei kontrastierende Ausdrucksflächen: schwungvoller meditativer Lyrik stehen in den beiden raschen Teilen kräftige, rhythmisch erregte Spannungs felder gegenüber. Die Sinfonietta erlebte ihre erfolgreiche Uraufführung während einer England- Tournee der Prager Sinfoniker im Oktober vorigen Jahres. Die musikalische Lei tung hatte Jindfich Rohan. In Prag wird das Stück erst im Anschluß an die Dresdner Premiere erklingen. B o h u s I a v M a rt i n ü , der bedeutendste tschechische Komponist der Mitte unseres Jahrhunderts, eine vielseitige, kraftvolle und eigenständige schöpferische Persönlichkeit, wurde 1890 in der ostböhmischen Stadt Policka geboren. Er begann seine Musikerlaufbahn zunächst nicht mit ausschließlich schöpferischer Tätigkeit. Vielmehr saß er — nach dem Studium am Prager Konservatorium — zehn Jahre lang als Orchestergeiger in der Tschechischen Philharmonie. Daneben schulte er sich autodidaklisch in Komposition. Ein Ballett, „Ischtar“, erlebte bereits seine Uraufführung am Prager Nationaltheater, ehe Martinü in Josef Suk den ersten Kompositionslehrer fand. 1923 ging er nach Paris, und hier (bis 1940 lebte er in Frankreich), in der damaligen internationalen Musikmetropole, unter den Augen seines Lehrers Albert Roussel, wurde Martinü seiner Berufung gewahr, besann er sich aber auch gleichzeitig auf sein urtümliches tschechisches Musikantentum, das Erbe seiner Nationalität, das er seitdem niemals verleugnet hat. Sein Verwurzelt sein im musikalisch-folkloristischen Heimatboden bewahrte ihn in all den Jahren in der Fremde, nicht zuletzt während seines Amerikaaufenthaltes (1941 bis 1945), vor Nachahmung ihm nicht gemäßer Stile, Auffassungen, Richtungen. Stets stand er in engstem Kontakt mit der Heimat, war sich seiner nationalen Sendung auch im Ausland bewußt und nahm lebhaften Anteil an dem traurigen Geschick seines Volkes während der Kriegsjahre. So schuf der Komponist unter dem Eindruck der Tragödie von München, die das Schicksal seines Vaterlandes besiegelte und ihn äußerst unglücklich machte, eines seiner bedeutendsten Werke, das Doppelkonzert für zwei Streichorchester, Klavier und Pauken, und 1943 den Orchesterhymnus „Lidice“ als Protest gegen die Ausrottung des gleichnamigen tschechischen Dor fes durch die Faschisten und in memoriam der Opfer dieser Barbarei. Nachdem Martinü jahrelang Musikprofessor an der Princeton University und zeitweilig auch Kompositionslehrer am Manes College sowie in Tanglewood gewesen war, folgte er 1946 einer Berufung als Professor für Komposition an das Prager Kon servatorium. Seitdem lebte er abwechselnd in Prag, New York, Pratteln (Schweiz) und auf Reisen. Am 28. August 1959 verstarb er in Liestal (Schweiz). Für das stilistische „Sichfinden“ des jungen Komponisten wurden, wie schon ange deutet, seine ersten Pariser Jahre sehr wesentlich. Die antiwagnerische Musik fesselte ihn, die „Gruppe der Sechs", Honegger, Milhaud, aber auch mit Stra winskys Schaffen begann er sich auseinanderzusetzen. Doch vorübergehende Begeisterung für diesen oder jenen Stil vermochte Martinü nicht von seinem Weg abzubringen. Zunächst wollte er einen neuen tschechischen Opernstil entwickeln. Manche Versuche belegen uns sein Ringen um eigene, gültige musik dramatische Formen (allein sieben unveröffentlichte Opern aus den Jahren 1926 bis 1937 und acht ebenfalls noch kaum verlegte Ballette), jedoch auch verschie dene in die Öffentlichkeit gedrungene Stationen auf dem Wege zum Ziel: das Mirakelspiel „Das Wunder unserer Frau“ (1933), „Julietta oder der Traumschlüssel“ (1936/37), die Kurzopern „Komödie auf der Brücke“ (1935) und „Die Heirat“ (nach Gogol, 1953), die Pastoraloper „Wovon die Menschen leben" (nach Tolstoi, 1953), die Goldoni-Oper „Mirandolina" (1954) und die „Griechische Passion" (1956). Aufschlußreich ist jedoch, daß im Gesamtwerk des tschechischen Meisters der Anteil der Instrumentalmusik dominiert, vielleicht weil die instrumentalen Aus drucksmöglichkeiten seinem Temperament mehr entsprachen und seiner Ansicht vom schöpferischen Prozeß. Aus seinem ungewöhnlich umfangreichen Oeuvre haben wir für unseren Zyklus zwei seiner wesentlichsten Schöpfungen aus der letzten Schaffensphase ausge wählt. Während im nächsten Konzert seine 6. Sinfonie aufgeführt wird, erklingt heute das 4. Klavierkonzert, 1955/56 in New York komponiert und da selbst am 4. Dezember 1956 mit Rudolf Firkusny als Solisten und Leopold Sto- kowski als Dirigenten uraufgeführt. „Der schöpferische Künstler sucht immerfort den Sinn des Lebens und seines eigenen Menschseins, er sucht die Wahrheit", sagte Martinü im Hinblick auf sein als „Incantation" (Beschwörung) bezeichnetes 4. Klavierkonzert. Das zweisätzige Werk weist eine komplizierte Architektur aut und gehört in den Kreis der Partituren, die Martinü „Fantasien" nannte (wie auch seine 6. Sinfonie): „Ich verlasse mich nicht so sehr auf das Thema, sondern mehr auf die Phantasie . . .“ Zwei gegensätzliche Tendenzen sind miteinander