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Spanien („Bolero"!) lassen jedoch in seiner kompositorischen Entwicklung immer mehr eine klare Zeichnung und ein gestaltendes Formbewußtsein Raum gewin nen. Davon gibt das G-Dur-Klavierkonzert, für die berühmte Pianistin Marguerite Lang geschrieben, deutlich Zeugnis ab. Ganz klare thematische Erfindungen sind zu beobachten, die in knapper und präziser Form spielerisch und mit viel Sinn für klangliche Delikatesse vorgetragen werden. Dabei fällt dem Soloklavier eine brillante Rolle zu. Die Harmonik atmet glasklaren romanischen Geist, fern jeder Schwülstigkeit und Überladenheit. Den Ton des ersten Satzes gibt ein heiteres Thema der Pikkoloflöte an. Das Soloinstrument trägt eine lyrische Stimmung hinein. Vor einer ausladenden kadenzartigen Solostelle des Pianisten steht eine klanglich interessante Horn- kantilene, von raschen Holzbläserläufen begleitet. Dann setzt sich die heitere Anfangsstimmung wieder durch. Von wunderbarer Ausgeglichenheit ist der zweite Satz — Adagio assai —, der durch einen ausdrucksvollen, liedhaft empfundenen Klaviersatz eröffnet wird. Die expressive Weise wird später vom Horn übernommen und von filigranartigen Klavierfiguren umspielt. Den kon stanten Untergrund bildet eine ostinat durchgehende Achtelbewegung im Baß des Klaviers, die erst im vorletzten Takt verändert wird. Von klassizistischer Heiterkeit erweist sich der letzte Satz — Presto. Nach einer schwirrenden Quintbewegung des Solisten wechseln sich die B/äser mit einem kecken Thema ab. Eine %-Episode ist von besonderer Brillanz. Der ganze helle, sonnige Satz ist von großer Durchsichtigkeit, von typisch französischer geistiger Prägnanz und Delikatesse. Der geniale russische Komponist Modest Mussorgski hinterließ uns auf dem Gebiete der sinfonischen Musik nur sehr wenige und kleinere Werke, die bis auf die bekannte „Nacht auf dem Kahlen Berge" neben seinen Opern und Liedern auch an Bedeutung zurücktreten. Die „Bilder einer Aus stellung", eine seiner hervorragendsten Kompositionen überhaupt, sind von ihm nicht für Orchester, sondern als Klaviersuite komponiert worden. Das Werk entstand im Jahre 1874, angeregt durch eine Moskauer Ausstellung mit Aquarellen und Zeichnungen des russischen Malers und Architekten Viktor Hartmann, der kurz zuvor (1873) verstorben war und zu Mussorgskis besten Freunden gezählt hatte, und schildert die Eindrücke, die der Komponist bei der Betrachtung von einigen dieser Bilder empfing. Die so entstandene — übri gens dem bedeutenden russischen Kunstkritiker Wladimir W. Stassow gewid mete — Komposition, ein äußerst plastisches, nuancenreiches und nach Charak ter und Stil ganz und gar russisches Werk, enthält die musikalische Darstellung von zehn Bildern Hartmanns und gliedert sich demgemäß in zehn Teile. Die einzelnen Sätze werden durch thematisch immer ähnliche sogenannte „Prome naden" verbunden, die gleichsam das Promenieren von Bild zu Bild wieder geben. Die in ihrer klanglichen Differenzierung fast orchestral konzipierte Klavierkom position reizte verständlicherweise andere Komponisten zur Instrumentation, wobei die Orchesterfassung des französischen Impressionisten Maurice Ravel aus dem Jahre 1926 eine große Popularität errang. 1954 schuf der Moskauer Professor S. Gortschakow, Lehrer am Konservatorium, Dirigent und Komponist, eine neue Instrumentierung des berühmten Werkes. Er unternahm damit — in genauester Anlehnung an Mussorgskis Klavierstücke, ohne jede Umstellung oder Veränderung — den Versuch, gegenüber der gewiß meisterhaften, farbi geren, jedoch in ihrer Wirkung vom Original sehr verschiedenen Ravelschen Fassung dem Original selbst nöherzukommen, vor allem das für Mussorgskis Stil Typische herauszuarbeiten und das starke nationale Element der Suite noch offener zutage treten zu lassen. Gortschakows Fassung, die 1968 von der Dresdner Philharmonie unter Kurt Masur zur konzertanten DDR-Erstaufführung gebracht wurde, ist in diesem ihren Anliegen etwa mit Schostakowitschs Neu bearbeitung von Mussorgskis Oper „Boris Godunow" zu vergleichen. Im folgenden sei das Programm, der Inhalt der einzelnen „Bilder einer Aus stellung" kurz erläutert. Nach der als Einleitung erklingenden „Promenade" folgt als erstes Bild „Gnomus". Die Vorlage dazu war ein Entwurf Hartmanns für einen holzgeschnitzten Nußknacker in der Form eines grotesken, buckligen, krummbeinigen Zwerges, dessen plumpe, ungelenke Bewegungen in Mussorgs kis Komposition durch große Intervallsprünge, hinkende Rhythmen, unerwartete Stockungen charakterisiert werden. Eine lyrisch-elegische Ständchenmelodie fand der Komponist für das zweite Bild, „Das alte Schloß" betitelt. Hartmann hatte den Vorwurf seines Bildes, das eine italienische Landschaft mit einer Burg und einem Sänger im Vorder grund zeigt, auf einer Studienreise in Italien gesehen. Die Gärten der „Tuilerien" in Paris sind der Schauplatz einer eleganten musi kalischen Genreszene, die spielende und streitende Kinder schildert. „Bydlo" nennt sich das nächste Bild. Ein rumpelnder polnischer Ochsenkarren mit riesengroßen Rädern, der diesen Namen trägt, kommt des Weges. Das „Ballett der Küchlein in ihren Eierschalen" geht auf Kostümentwürfe Hart manns für eine Ballettaufführung zurück. Mussorgskis Komposition ist in leichtem Scherzocharakter gehalten; die Küchlein hacken an ihren Schalen, tanzen gra ziös und piepsen in Vorschlägen und Trillern. Die scharfe, treffende Charakterisierung zweier polnischer Juden, eines reichen und eines armen, gibt der Komponist in „Samuel Goldenberg und Schmuyle" in einem musikalischen Dialog. Hartmann zeichnete die beiden im Ghetto von Sandomir Marktgeschwätz und Streiten kreischender, keifender Weiber schildert der siebente Teil der Suite, „Der Marktplatz von Limoges", in einem besonders anschaulichen Klangbild nach einem Aquarell Hartmanns. Eine düstere Episode bringen die „Katakomben". Durch die Vorlage, ein Selbst porträt Hartmanns in den Pariser Katakomben, wird in einer gespenstischen Vision die Erinnerung an den Loten Freund heraufbeschworen. Den zweiten Teil dieses Satzes überschrieb der Komponist „Cum mortuis in lingua mortua" („Mit den Toten in der Sprache der Toten") und gestaltete ihn gleichsam zu einer Zwiesprache mit dem Verstorbenen. Hartmanns Bild der „Hütte auf Hühnerkrallen" der Baba Jaga, der Hexe des russischen Volksmärchens, inspirierte Mussorgski zur musikalischen Darstellung eines wilden Hexenrittes durch die Lüfte. „Das große Tor von Kiew" beendet den Zyklus. Das majestätische akkordische Thema dieses letzten Klangbildes wurde aus dem Thema der „Promenade" abgeleitet. Kraftvoll-feierliche Klänge von typisch nationalrussischem Kolorit gemahnen an alte russische Heldensagen. Dr. habil. Dieter Härtwig