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ZUR EINFÜHRUNG Während Claude Debussy mit der Ausarbeitung seiner Oper „Pelleas et Melisande" beschäftigt war, komponierte er die drei „Nocturnes“ (Nacht stücke): „Nuages" („Wolken"), „Fetes" („Feste") und „Sirenes" („Sirenen"). Sie waren ursprünglich für Violine und Orchester geschrieben und für den belgischen Geiger Eugene Ysaye bestimmt worden. Die endgültige Fassung wurde 1899 abgeschlossen und im folgenden Jahr in den Concerts Lamoureux zu Paris uraufgeführt. In den „Nocturnes" sind die Bestrebungen ausgereift, die sich im „Vorspiel zum Nachmittag eines Faun" (1894) angebahnt hatten. Sie enthalten weder beschreibende oder malerische Bilder noch Gemälde von leidenschaftlichen Vorgängen, in dieser Musik herrscht feinste, farbige Abstufung vor. Sie läßt in tausend buntfarbigen Feuern zauberhafte Visionen eines wunderbaren Universums schillern, die Traum und Wirklichkeit vereinen. Diese Wirklichkeit ist erfüllt von Gefühlen, die den ganzen Reichtum des Lebens, ein geschlossen die empfindsame innere Welt der menschlichen Seele, umfassen. Der Komponist sagt selbst von seinem Werk: „Der Titel .Nocturnes' will hier in einem allgemeineren und vor allem dekoia- tiveren Sinn verstanden werden. Es handelt sich also nicht um die gewohnte Form des .Nocturne', sondern um all das, was dieses Wort an besonderen Impressionen und Beleuchtungen einschließt. ,Nuages': das ist das ewige Bild des Himmels mit dem langsamen und melancholischen Zug der Wolken, der in einem zart weiß getönten Grau erstirbt. .Fetes': das ist die Bewegung, der tanzende Rhythmus der Atmosphäre mit dem Aufflammen greller Lichter; darin auch die Episode eines Aufzuges (eine glänzende und geisterhafte Vision); der Zug durchquert das Fest und verliert sich dann in ihm. Aber die Hauptsache bleibt immer das Fest und sein Gewoge von Musik und tanzenden Lichtern in einem alles umfassenden Rhythmus. .Sirenes': das ist das Meer und sein unauf hörlicher Rhythmus; aus den von Mondlicht silbern überglänzten Wellen erklingt, lacht und verweht der geheimnisvolle Gesang der Sirenen." Für die Aufführung der „Sirenes" wird ein Frauenchor benötigt, der auf Vokale traum haft zart zu singen hat. Frank Martin, der heute 83jährige Schweizer Komponist, neben Willy Burkhard (1900—1955), Arthur Honegger (1892—1955) und Othmar Schoeck (1886—1957) zu den hervorragendsten Persönlichkeiten der modernen Musik seines Landes gehörend, wendete sich nach anfänglichen naturwissenschaftlichen und mathematischen Studien erst im Alter von 20 Jahren ganz der Musik zu und studierte bei Joseph Lauber in seiner Vaterstadt Genf. Danach lebte er in Zürich, Rom, Genf und Paris. 1928 bis 1938 unterrichtete er am Jacques-Dalcroze- Institut in Genf Improvisation und Theorie, später am dortigen Konservatorium. 1943 bis 1946 war er Präsident des Schweizer Tonkünstlervereins, der ihm 1947 den Komponistenpreis verlieh, übersiedelte 1946 nach Amsterdam, von wo aus er 1950 bis 1957 als Professor für Komposition an der Kölner Musikhochschule wirkte. Auch heute lebt er in den Niederlanden und widmet sich ganz seinem kompositorischen Schaffen. In seinen ersten Werken von der Spätromantik und Debussy beeinflußt, begann sich Martin um 1930 mit Arnold Schönbergs Zwölftontechnik auseinanderzu setzen, der er entscheidende Anregungen verdankt, ohne Schönbergs Ästhetik zu folgen. Es gelang ihm, schließlich „die dodekaphonische Technik mit seinem harmonischen und tonalen Empfinden in individueller Weise zu verbinden" (E. Mohr). Mit dem Oratorium „Der Zaubertrank" (1941), das der betagte Komponist vor einigen Jahren noch selbst in Dresden dirigierte, fand er seinen eigenen, unverwechselbaren Stil, dem er bis heute treu geblieben ist und der durch intensive Ausdruckskraft, konstruktive Klarheit, kraftvolle Rhythmik und harmonisch-klanglichen Farbreichtum gekennzeichnet ist. Frank Martin schrieb außer zahlreichen weiteren Kammermusik-, Orchester- und Vokalwerken die Petite Symphonie concertante für Harfe, Cembalo, Klavier und zwei Streich orchester (1945), das Konzert für sieben Bläser, Pauken, Schlagzeug und Streich orchester (1949), das Violinkonzert (1951), das Cembalokonzert (1952/53), das Oratorium „Et in terra pax" (1944 im Hinblick auf das Kriegsende komponiert), das Passionsoratorium „Golgatha" (1948), das Oratorium „Le mystere de la nativite" (1959) und die Shakespeare-Oper „Der Sturm" (1956). Das heute zur DDR-Erstaufführung gelangende 2. Klavierkonzert Martins, das 1968/69 für (und in Zusammenarbeit mit) Paul Badura-Skoda komponiert und der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien anläßlich des 100jährigen Jubiläums ihres Hauses am Karlsplatz gewidmet, jedoch vor der Wiener Premiere (im Dezember 1970) am 27. Juni 1970 in Scheveningen mit großem Erfolg uraufgeführt wurde, ist verglichen mit seinem 1. Klavierkonzert (1934) oder der Ballade für Klavier und Orchester (1939) wesentlich virtuoser, ganz auf pianistisches Können zugeschnitten, in jeder Hinsicht anspruchsvoller (nicht nur im technisch ungewöhnlich schwierigen Solopart), im kompositorischen Stil auch dramatischer, härter, schroffer, herber. „Die Melodie, das vielschichtige Stimmengewebe, interessieren mich mehr als die apartesten harmonischen Zusammenhänge . . . Bachs Linearität, Monteverdis Deklamationsstil, Debussys Farbenwelt, das sind die Elemente, die ich zu vereinigen trachte", sagte der Komponist im Hinblick auf sein Spätschaffen. Sein 2. Klavierkonzert, das in persönlicher Zwölftontechnik gearbeitet ist, die genügend Raum für traditionelle Elemente (wie thematische Gedanken und ihre Verarbeitung, Rhythmus, Form und Tonalität) gewährt, vereinigt diese Merkmale. Es beeindruckt durch seine Gedankenfülle, durch seinen vitalen und jugendlichen Charakter (und das angesichts des hohen Alters seines Schöpfers). Es ist so gar kein verklärtes Alters werk, es gibt sich überaus frisch in seinem motorischen, rhythmisch betonten Gestus; bisweilen tönen Jazzelemente herein, auch Ravels Klavierkonzerte scheinen im Hintergrund zu stehen. Gleich der erste Salz (Con moto) hat einen dramatisch vorwärtsdrängenden Charakter. Er beginnt mit einem Paukensolo. Das rhythmisch bestimmte Haupt thema folgt nach virtuoser Klavierüberleitung; es löst ein vom Alt-Saxophon vor getragenes melodisches Thema sofort wieder ab. Der Paukengedanke des Beginns leitet einen reprisenähnlichen Abschnitt ein, in dem wiederum das Hauptthema dominiert. — Auch der Mittelsatz (Lento) hat einen unruhig drängenden Charak ter und weist nur wenige Momente meditativer Ruhe auf. Eine Zwölfton-Melodie von gemessenem Charakter prägt die musikalische Entwicklung. Nachdem sie zuerst vom Klavier eingeführt wird, durchläuft sie alle Instrumente, reizvoll kontrapunktiert. — Das Presto-Finale ist durch die hämmernde Motorik und den mitreißenden Schwung seines Hauptgedankens charakterisiert. Ein kunstvoll variiertes zweiteiliges Gesangsthema sorgt für Kontrastwirkungen. Das Stück mündet in eine virtuose Solokadenz, nach welcher eine strettaartige Steigerung das Werk beschließt.