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ZUR EINFÜHRUNG Petr Eben gehört zu den markantesten Erscheinungen der zeitgenössischen tschechischen Musik. Der 1929 Geborene verlebte seine Jugend im historischen Milieu der alten südböhmischen Stadt Krumlov. Als Fünfzehnjähriger wurde er — während der faschistischen Okkupation seiner Heimat — ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. In der befreiten Tschechoslowakei konnte er 1945 das früh begonnene musikalische Studium fortsetzen, studierte das Cello-, Klavier- und Orgelspiel und komponierte. An der Prager Akademie der Musischen Künste absolvierte er sowohl die Klavierabteilung als auch die Kompositionsklasse Pavel Borkovecs. Obwohl sein kompositorisches Schaffen, das bis heute schon beträchtlichen Umfang erreicht hat, im Vordergrund seiner Tätigkeit steht, ist er auch als feinfühliger Begleitpianist hervorgetreten (u. a. auch in Dresden) und unterrichtet an der Prager Karls-Universität junge Musikologen in Gehör bildung, Partiturspiel und Formenkupde. Ebens individuelle Tonsprache, die starke melodische, oft modal gefärbte Inven tion, ausdrucksvolle Rhythmik mit geschärfter Harmonik verbindet, erwuchs aus enger Verbundenheit mit der Tradition der tschechischen Musik. So begegnen in seiner Musik sowohl Einflüsse der mittelalterlichen Musik (insbesondere der Gregorianik), aus vorklassischer Zeit wie der heimatlichen Folklore. Dennoch ist Petr Eben kein konservativer Autor, sondern bemüht sich auf ganz persönliche Weise um neuartige schöpferische Äußerungen, die sich durch Erfindungsgabe, Kultiviertheit und moderne Schlichtheit des Ausdrucks auszeichnen. Seine emotionell immer reiche Musik ist vielfach literarisch, ja philosophisch „befrach tet". Eben machte zunächst vor allem als erfolgreicher Lieder- und Chorkomponist von sich reden (genannt sei hier das große Oratorium nach dem griechischen Text Platos „Apologia Sokratus“). In letzter Zeit trat verstärkt auch die Kammer- und sinfonische Musik in sein Blickfeld. Neben dem Orgelkonzert „Symphonia gregoriana" (1954), dem Klavierkonzert (1961) bedeutet vor allem der unser heutiges Konzert eröffnende Sinfonische Satz Vox clamantis (Die Stimme des Rufenden) für 3 Trompeten und Orchester den bisherigen Höhepunkt in diesem Schaffensgebiet des Komponisten. Petr Eben übersandte uns zu dem 1969 in Prag geschriebenen und 1970 dort uraufgeführten Stück, das inzwischen zahlreiche Aufführungen u. a. in England, den USA und in Argentinien erlebte, folgenden Werkkommentar: „Vox clamantis ist eine Komposition, die weder ein Geschehnis, noch einen Zustand schildert. Ihr Inhalt ist die Darstellung eines Überganges. Die Komposition will den Umbruch ausdrücken, den jeder Mensch irgendwie in seinem Leben erfährt oder zu erfahren trachtet: den Weg vom Suchen und Irren zu Erkenntnis und Sicherheit, auf welcher Ebene seines Handelns oder Erfahrens auch immer dies geschehen mag. So beginnt also die Komposition mit einer Atmosphäre des Rufens, das ohne Antwort irgendwo in der Ferne verklingt. Diese Stimmung der Ungewißheit wird musikalisch mit verschiedenen Mitteln ausgedrückt: durch ein bewegliches Metrum und steten Tempowechsel, durch aleatorische Flächen, durch kurze, abgerissene melodische Phrasen ebenso wie durch eine um wechselnde Zentren kreisende Polytonalität. Nach einer Verdichtung der suchenden Unruhe im Orchester tritt in diese Atmosphäre die erste Solofläche der drei Trompeten ein, die links, rechts und in der Mitte über dem Orchester postiert sind und deren rhythmisch freie, melodisch etwas klagende Intonation stark dem rhapsodischen Typus des alten Synagogengesanges entspringt, an dessen Einstimmigkeit sich die drei Trompeten über einer aleatorischen Orchesterbegleitung beteiligen, indem sie sich gegenseitig ablösen und die Melodie weitergeben. Nach einem Orchesterzwischenspiel, das die innere Unruhe des Stückes zur Hast steigert, ertönt die erste Kulmination im Tutti der Bläser. Im Verlauf dieser Fläche nehmen alle Bestandteile der Mu^ik schon festere Konturen an; die Melodik wird konzentrierter, allmählich setzt sich ein festerer Rhythmus durch und die Harmonie ringt sich zu der Ahnung einer entfernten Mono-Tonalität durch, die in einen abschließenden, rhythmisch lapidaren Choral einmündet. Es handelt sich hier um das Zitat des ältesten bekannten tschechischen geistlichen Volks liedes .Hospodine, pomiluj ny' (Herr, erbarme dich unser) aus dem 10./11. Jh., das seit Karl IV. zu einem Bestandteil der Krönungszeremonie der böhmischen Könige wurde, also — wie wir heute sagen würden — zur Staatshymne. Die zweite Trompetenfläche, die nach dem Orchesterzwischenspiel einsetzt, bringt zunächst eine Vorimitation des Schlußchorals, die von den Trompeten in auf einanderfolgenden polyphonen Einsätzen zu der ruhigen Viertelbewegung der Streicher realisiert wird. Die sich überschneidenden erregten Sechzehntelfiguren der Trompeten steigern sich in ihren Imitationen bis zu hektisch-verzweifelndem Rufen, das von einem Solo des Schlagzeuges mit einem Glockenmotiv abgelöst wird und in die dritte Trompetenfläche überleitet, die dann die Festigkeit einer gefundenen Sicherheit widerspiegelt; sie bringt in homophonen Akkorden der drei Trompeten den Schlußchoral zu der Trioienbegleitung der Streicher und den kurzen Zwischenspielen der Holzbläser. Wenn am Anfang gesagt wurde, der sinfonische Satz verfolge den Übergang von Ungewißheit zur Sicherheit, so mögen die letzten Takte überraschend sein, da sie wieder zur Atmosphäre der Ausgangssituation zurückkehren. Dies ist aber nur ein Zeugnis von jenem nicht auszumerzenden Rest von Zweifel in jedem menschlichen Herzen (Faust-Problem)." Bedfich Smetana, Antonin Dvorak und Zdenek Fibich waren die drei großen Klassiker der tschechischen Musik im 19. Jahrhundert. Die Meister, die wir als die zweite Generation der Klassiker der tschechischen Musik bezeichnen, waren mit der Gründergeneration meist direkt als ihre Schüler verbunden. Ein echtes Verhältnis des Schülers verband Leos Janäcek (1854—1928) mit Dvorak, während Vitezslav Noväk (1870—1949) und Josef Suk (1874—1935) dessen unmittelbare Schüler am Prager Konservatorium waren. Otakar Ostrcil (1879—1935) war ein Privatschüler Fibichs. Auch die Kunst Josef Bohuslav Foersters (1859—1951), dessen Schaffen einen großen Zeitraum umspannte — er kom ponierte von Jugend an bis an sein Lebensende — nahm ihren Ausgang zweifel los von der Smetanas und Dvoraks. Wie die Vorgenannten gehört er zur zweiten Klassikergeneration der tschechischen Musikgeschichte. Sein reiches Werk, das sämtliche Zweige des Musikschaffens umfaßt, stellt ein Bindeglied dar zwischen dem Zeitalter Smetanas und der tschechischen Musik des 20. Jahr hunderts. Er entstammte einem alten tschechischen Kantorengeschlecht. Seine Jugend kennzeichnen die überragenden Erfolge der Werke Smetanas und Dvoraks, die Mannesjahre insbesondere die Berührung mit der Kunst Gustav Mahlers. Eine Reihe von Jahren verbrachte er außerhalb der Heimat, zuerst in Hamburg und dann in Wien, wo er als Musikkritiker und Pädagoge tätig war. Erst nach dem Jahre 1918 kehrte er in die freie Heimat zurück, wo er als Professor für Komposition an der Meisterschule des Prager Konservatoriums wirkte. Josef Bohuslav Foerster war eine universale Persönlichkeit: Komponist, Dichter und Maler. Seine Lebenserinnerungen, die den wörtlich wie auch symbolisch gemeinten Titel „Der Pilger" tragen, stellen eine einzigartige musik- und kultur geschichtliche Dokumentation dar. Aus der Fülle seines kompositorischen Schaf fens ragen fünf Sinfonien und sechs Opern heraus, von denen die Oper „Eva" (1897), komponiert auf den Stoff eines realistischen Dramas der Klassengegen sätze auf dem Dorfe, grundlegende Bedeutung für die Geschichte des tsche-