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2506 daß Oesterreich, von seinem Standpunkt au-, die westmächtliche Interpretation des dritten Garantiepunkts für zu weitgehend hält und daß eS darum, wenn es für den Frieden thätig sein will, bei den Weltmächten sich im Sinn einer Modifikation ihrer bisherigen Interpretation des dritten Punktes bemühen muß. Daß die Westmächte sich ganz auf den Standpunkt Oesterreichs fiel- len sollen, das kann man in Wien natürlich nicht verlangen, und man muß darum auch ebenso sehr auf der andern Seite in dem Sinne thätig sein, daß Rußland den Kreis seiner Concessionen, zu welchen es in Betreff des dritten Punktes biSjetzt bereit war, möglichst auSdehne. Hiermit ha- Len wir das Feld, auf welchem die gegenwärtigen Vermittelungsbestrebun- gen Oesterreichs sich bewegen, angedeutot. Was die Westmächte betrifft, so wollen dieselben, wie wir von gutunterrichteter Seite vernehmen, von ihren bisherigen Foderungen in Betreff des dritten Garanliepunktes nichts nachlassen. Möglich ist cs, daß die Westmächte, um ihrem Bundesgenos sen vom 2. Dec. doch in etwas zu genügen, den Wortlaut ihrer bisherigen Interpretation des dritten Punktes in eine für Rußland minder demüthi- gende Fassung umzuändern bereit sein wollen; das aber würde, wie wir vernehmen, doch auch eben nur von der äußern Fassung und keineswegs von dem eigentlichen Inhalt der Interpretation gelten, welcher in allen we-, sentlichen Punkten ganz derselbe wie bisher bleiben würde. Hieraus folge zunächst, daß die Angabe, es sei über die betreffenden Vorschläge eine Eini gung zwischen Oesterreich und den Westmächten erfolgt, eine falsche Unter stellung ist. Eine solche Einigung setzt voraus, daß man bereit sei, »für das Uebereingekommene, wenn die Annahme desselben verweigert würde, nöthigenfallS selbst einzulreten. Das aber entspräche der Stellung Oester reichs nicht, und wir denken, daß der Umstand, daß Oesterreich, noch ehe die ganze Sache zu Ende gekommen, sein Heer auf den Friedensfuß setzt, in dieser Beziehung lauter redet als die besten Deduktionen cs vermöchten. Oesterreich hat bei den betreffenden Vorschlägen nichts als das Amt der Uebermittelung und der möglichen Vermittelung. Es folgt ferner daraus, daß, wenn man die getroffene Aenderung von französischer Seite als nun mehr für Rußland annehmbar bezeichnet,, dies eben eine französische Auf fassung ist, die in objektiver Beziehung von dem Richtigen noch sehr weit ent fernt sein dürfte; denn da die Aenderung nur eine formelle und die Sache an und für sich ganz dieselbe geblieben, so ist doch nichtgutzu erwarten, daßRußland sich nunmehr «her auf dieselbe einzugehen entschließen sollte. Wir haben uns, indem wir diese Darstellung von der wirklichen Sachlage geben, in Betreff des zuletzt Gesagten natürlich auf den russischen Standpunkt zu stellen, und es kann darum auch irgendeine persönliche Meinung für oder gegen das Eine oder Andere hierbei gar nicht in Betracht kommen. Es muß nun ferner bemerkt werden, daß Rußland noch gar keine Gelegenheit gehabt hat, sich über den betreffenden Abänderungsvorschlag auszusprechcn, ganz einfach deshalb, weil derselbe erst fertig gemacht werden mußte, bevor er Rußland zur Beurtheilung vorgelegt werden konnte. Alles, was auf die ser Seite bisjctzt geschehen konnte, mußte sich darum auf allgemeine Vor stellungen im Sinne möglichster Nachgiebigkeit zu Petersburg beschränken. Hier hat Oesterreich das Seinige gethan, und es ist darin auch von den übrigen deutschen Staaten, Preußen nicht ausgenommen, kräftigst unter stützt worden. Daß diese Vorstellungen von Rußland, welches selbst den Frieden dringend wünscht, günstig ausgenommen worden, ist gewiß nicht zu bezweifeln; es ist aber dabei auch an jene ewige Restriktion zu denken, die man den russischen Staatsmännern, von ihrem Standpunkte aus, nicht verargen kann. Sie sagen: „Wir wollen den Frieden, wir wollen und Wünschen ihn dringend; aber wir lassen uns keinen Frieden auferlegcn, wir gehen keinen Frieden ein, der sich mit der Ehre Rußlands nicht verträgt." Der österreichische Gesandte am russischen Hofe, Graf Esterhazy, wel cher sich vor einigen Tagen von Wien auS auf seinen Posten nach Pe tersburg zmückbegeben hat, soll, wie wir vernehmen, die formell abge änderte Fassung der westmächtlichen Interpretation über den dritten Ga rantiepunkt zur Vorlage in Petersburg mitgenommen haben. Daß es ihm gelingen werde, die Annahme derselben in Petersburg zu erwirken, das dürfte mindestens zu bezweifeln sein. In Kreisen, wo man die Sache mit unbefangenen Augen ansieht, betrachtet man die auf dieses Vermittelungs- project gewendete Mühe als die überflüssigste von der Welt. Es ist also, um schließlich noch einmal auf die gegenwärtigen Friedenöhoffnungcn zu rückzukommen, lediglich ein einseitiges Projekt in Frage, dessen Verwerfung schon im voraus als feststehend zu betrachten ist. Die Friedenshoffnungen, welcher Art sie auch sein mögen, entbehren also bis zur Stunde noch im mer aller thatsächlichen Begründung. Bei den Commissionswahlen für den Antrag des Grafen Schwerin und für die Verfassungscommission hat die durch ihre Majorität gebietende Rechte sich wieder gut bedacht. Sie allein wird in diesen Commissionen das Wort zu führen haben. Der Antrag des Abg. Harkorl über die Grundsteuerfrage ist heute vertheilt worden. Abg. Harkort will die Grund- steuerfrage im Sinn einer völligen Aufhebung aller Grundsteucrfreiheiten geregelt wissen. Wir behalten uns vor, auf den wichtigen Gegenstand zu rückzukommen. An der Spitze der dem Anträge bcigegebenen Motive steht Ler Ausspruch Friedrich'S des Großen: „daß in Preußen alle Staatslasten mit gleichen Schultern sollen getragen werden." — In einem Leitartikel der National-Zeitung unter dem Titel „Beginn der parlamentarischen Angriffe auf die Verfassung" bespricht dieselbe den „Entwurf zum Programm der Rechten" und sagt: „Was für «inen Begriff haben di« Anhänger dieses «Programms» von ihrem parla mentarischen Berufe? Sind sie nach ihrer Meinung dermaßen souverän in ihrer gesetzgeberischen Besugniss, daß sie ein Recht haben, ein halbes ! Jahrhundert Geschichte de- Staat- der öffentlichen Verachtung prei-zuge- den? Dürfen sie die Eintracht ihrer Mitbürger stören und die Lehren und Reden abscheulicher Aufhetzer zu den ihrigen machen? Man höre, wie sie ein neues Zeitalter, die Abwendung von unsern historischen Grundsätzen der Gesetzgebung verlangen, und man wird erstaunen über die Maßlosig keit ihrer Ansprüche. «Zum ersten male», sagen sie, «seit 1848 ist jetzt di« preußische Regierung, sind die Abgeordneten des preußischen Volks vor die Möglichkeit gestellt, ein vollwichtiges und wirksame- Zeugniß abzulegen gegen die Errungenschaften jener verderblichen Zeit, ein Zeugniß, welches über die Grenzen des preußischen Staats hinaustönen und die Mauern und Burgen des herrschenden Jrrthums in ihren Grundvesten erschüttern wird.» Alle Reaktion seit sechs Jahren bedeutet nichts in ihren Augen, wir stehen jetzt erst vor den Thoren des Anfangs. Dabei sind sie unge- nirt genug, die Uebereinstimmung der Staatsregierung mit ihren Planen ohne weiteres vorauszusetzen. Sie verkünden: «Da die Regierung und ihre-Freunde gegenwärtig selbst der Zahl nach die Stärker« sind, so hat die Majorität die Pflicht, aus der bisherigen bloßen Negation herauözutrelen und den Gegnern zu zeigen, daß wir nicht minder gut zu bejahen als zu verneinen wissen.» Diese Art, einen Fehdehandschuh hinzuwerfen, gehört in der That zu den seltenen Dingen. Die Herausfoderer tragen kein Bedenken, erstens die Staatsregierung zur Feindin des geschichtlichen Pr«ußenthums und der großen Mehrheit des preußischen Volks zu machen, und zweitens gestehen sie für sich selbst, baß sie in allen Andersdenkenden nicht mehr ihre Volks genossen, mit denen sie sich zu vertragen und zu perständigen habe», son dern Heloten erblicken, denen gegenüber ihre Parole Gewalt und Unter» drückung lautet. Dies wird mit dürren Worten auf S. 4 gesagt. Dort heißt es: «Bisher haben wir den Gegner zum Schweigen gebracht, doch das Schwerste ist noch dahinten; den Liberalismus (so wird Alles genannt, was der Feudalpartei nicht gefällt) haben wir zum Theil vertrieben, aber eS ist uns kein Gewinn, wenn die Behausung des Vertriebenen nicht von einem Slärkern eingenommen wird.» Es ist das Kriegsrecht des gallischen Siegers, welches di« Feudalpartci allen übrigen Schichten des preußischen Volks ankündigt! Auf S. 11 findet diese Gesinnung eine Ergänzung. Dort werden die Sophistereien, mit welchen gewisse socialistische Schriftsteller den sogenannten vierten Stand gegen die «Tyrannei des Capitals», gegen die «Ausbeutung des Volks durch die Bourgeoisie» aufzuhetzen gesucht haben, beifällig erwähnt und als «scharfsinnig und unwiderleglich» gepriesen. Wir müssen, damit man uns Glauben schenkt, ein Stelle wörtlich hierhersetzen und bemerken nur noch zuvor, daß das Ziel dieses Programms eine radikale Revision der Verfassung ist, weil dieselbe angeblich dem geldbesihenden Bürgerthum die Herrschaft über die Krone und über das Volk verleiht. Es heißt daselbst: «In dem wir Hand an die Verfassungsurkunde legen, tasten wir keineswegs die Frei heit des Volks, tasten wir nur. die usurpirte Alleinherrschaft des beweglichen Be sitzes und der doktrinären Bewunderer desselben an. Die Freiheit, die er ge- bracht, die Segnungen, mit denen er die Völker überschüttet, sind überall wurmstichig und abschmeckig geworden. Seine Hintersassen, denen er die politische Freiheit verheißen und die sociale verkümmert, die «r wie einen Lahmen zum Wettrennen eingeladen und unter dem als Hohn empfunde nen Vorwande der Freiheit des Gewerbes durch das Ucbergewicht seiner Mittel von dem Erwerbe ausgeschlossen, sie dürften ihm nur wenig dank- bar sein.» Das ist die Sprache eines couservativen Gesetzgebers! Folgen des ist der Entwurf der Revision nach seinen Hauptumrissen. Die Re form zerfällt, wie das «Programm» sagt, in zwei Theile. «Der erster«, die Beseitigung der Socialprincipien der Französischen Revolution und der Doclrin der liberal-constitutionellen Staatsform, bietet keine Schwierigkeit dar.» Es wird angenommen, daß die Verfassung durch Majoritäsbeschlüsse von allen den Bestimmungen gesäubert werden könne, von denen ein Ver- zeichniß bereits entworfen ist und in dem Programm vorliegt. Dann sollt« nicht etwa neue Grundsätze aufgestellt werden, sondern «S bleibt die all- mälige Besserung «lediglich der Specialgcsehgebung» überlassen. Ein neues Wahlgesetz für das Haus der Abgeordneten wird nicht angefertigt, da sich «unser jetziges Wahlsystem ganz brauchbar erwiesen hat». Auch gibt man sich nicht der Täuschung hin, daß die Sünden eines halben Jahrhunderts in einem Jahre abgethan werden können. Vielmehr «dürfte es gerathen sein, in diesem Jahre mit wenigen, aber den Kern der Sache treffenden concreten Vorschlägen vor di« Häuser zu treten — sozusagen Samenkörner für die Entwickelung der conservativen Principien zu legen»." — Die Norddeutsche Zeitung berichtet aus Stettin vom 17. Dec.: „Eine. Familie aus dem Dorfe Hagen bei Pölitz, die auS der landräthlichen Kasse «ine monatliche Unterstützung von 2 Thlrn. erhält, hatte sich per sönlich am 15. Dec. an die hiesige Regierung um Erhöhung der Unter stützungssumme gewandt und war mit ihren drei, 13, 7 und 2'/, Jahr«n alten Kindern im Regierungslocal erschienen. Als am Abend diese Per sonen das Local noch nicht verlassen hatten, wurde die Polizeibehörde re- quirirt, welche die Familie während der Nacht im Polizeigefängnisse unter brachte und gestern Morgen mit einer Reiseroute nach dem Heimatsdorfe zurückschicken wollte. Beim Austritt aus dem Wachtzimmer sagte die Frau zu dem Manne, er solle das eine, sie werde die beiden andern Kinder neh men, setzte sich auf dem Hausflur des Polizeigebäudes hin, nahm ein Brot messer aus der Tasche, und begann dem jüngsten Kinde in den Hal- zu schneiden, woran sie jedoch durch die auf da- Geschrei der Kinder herbei- eilenden Polizeiofficianten gehindert wurde, welche ihr das Kind entrissen und sie zur Haft brachten. Ihr« Aussage bestätigte, daß sie die Absicht gehabt habe, ihre Kinder zu tobten, da sie nicht die Mittel zu ihrer fer» nern Existenz hätte." , '