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Donnerstag. —- Nr. 19«. I« August 1885 EeiPziA. Die Zeitung erscheint mit Anönahme des Montags täglich und wird Nachmittags -1 Uhr aus- gegeben. Preis für das Bicrtel- jahr 1 Thlr.; jede ein zelne Nummer 2 Ngr. Deutsche Allgemeine Zeitung. »Wahrheit und Recht, Freiheit und Gesetz!» Z» beziehen durch alle Postämter des In- mW Auslandes, sowie durch die t^rpedition in Leipzig (Querstraße Nr. 8). Ins ertionsgebühr für den Raum einer Zeile 2 Ngr. Der Zweck des Kriegs. — Leipzig, 15. Aug. Lord I. Russell, dieser Staatsmann, der so un- glücklich ist, seine ruhmvolle politische Vergangenheit durch eine Reihe un staatsmännischer Acte der Gegenwart in den Schatten zu stellen, hat so eben zu den vielen begangenen Taktlosigkeiten eine neue hinzugcfügt. Nach dem er durch sein Eingehen auf den österreichischen Vermittelungsvorschlag in Wien eine Politik vcrurthcilt hatte, die er bis dahin als Mitglied des Cabincts ntitvertheidigt und durchgeführt, und nachdem er dann dennoch wieder in derselben Eigenschaft als Minister die Fortsetzung des Kriegs mit beschlossen und also Das, was er als Gesandter Englands gebilligt, ver leugnet hatte, stellt er jetzt plötzlich im Parlament das ganze Princip der Politik, welche die Negierung, deren Mitglied er fortwährend gewesen, seit fast zwei Jahren in Bezug auf die orientalische Frage verfolgt hat, mit der merkwürdigsten Unbefangenheit bloß. Er behauptet nämlich, die Türkei sei der Annahme der österreichischen Vorschläge nicht abgeneigt gewesen, und spricht die Meinung aus, wenn dies der Fall sei, so werde der Krieg nicht mehr zum Schutz der Türkei, sondern zur Aufrechthaltung des militärischen und seemännischen Rufs der Westmächte geführt, und man müsse dann ter Türkei nicht Anleihen garantiren, sondern Subfidien zahlen, damit sic die Zwecke Englands und Frankreichs unterstütze. Abgesehen von der Richtigkeit der faktischen Behauptung selbst, welche der Premierminister sofort in Zweifel stellte, ist cs unbegreiflich, wie ein Staatsmann, der als Mitglied des Cabincts, aus dem er kaum ausgetre ten, an allen diplomatischen Acten der Regierung seit Anbeginn des Kriegs theilgenommcn hat, die einfachsten thatsächlichen Verhältnisse, die durch diese diplomatischen Acte festgestellt sind, so gänzlich ignorircn kann. In dem Vertrage, den die Wcstmächte mit der Pforte abgeschlossen, ist ausdrücklich stipulirt, daß die Pforte in keine FricdensUnterhandlungen mit Rußland cintreten dürfe ohne die Zustimmung ihrer Alliirten, während diesen Letz ter» eine gleiche Beschränkung nicht auferlegt ist. Schon dies deutete an, daß man von Seiten der Westmächte den Schutz der Türkei zwar als den nächsttn, aber nicht als den einzigen und letzten Zweck des Kriegs gegen Rußland ansah und sich die Hände freihaltcn wollte, um .selbst zu be stimmen, ob und wann ein den Bedürfnissen der Lage und den gebrachten Opfern entsprechendes Resultat erreicht scheine. Wäre ferner der Krieg nur zum Schutze der Türkei unternommen worden, so hätte cs des Vorbehalts nicht bedurft, den die Westmächte von vornherein für sich stellten und den sogar Oesterreich billigte: je nach dem Gange der militärischen Ereignisse noch andere Bedingungen als die vier Punkte aufzustellcn; denn hätte es sich nur um den Schutz der Türkei gehandelt, so war für diesen Zweck allerdings durch die vier Punkte, bei einer strengen Auslegung derselben, hinlänglich gesorgt. Den gedachten Vorbehalt hat Lord I. Russell na- cürlich als Mitglied der englischen Regierung seiner Zeit mit beschließen hel fen ; glrichwol nimmt er jetzt die Miene an, als sei der Krieg nur für den beschränkten Zweck des „Schutzes der Türkei" unternommen und habe kein rechtes Ziel mehr, sobald die Pforte sich für befriedigt und keiner weitern Anstrengungen zu ihrem Schutze bedürftig erklären würde. Gerade, wenn die Türkei schwach genug sein sollte, auf so ungenügende Garantien, wie die von Oesterreich vorgeschlagenen, einzugehcn, so wäre dies ein Grund mehr für die Wcstmächte, auf der Fortführung des Kriegs bis zur Erzwin gung besserer Bedingungen zu bestehen. Denn je schwächer die Türkei (in folge ihrer inner» Lage, wie dann anzunehtnen wäre) sich zeigen würde, desto mehr müßte man auf äußere Schutzmittel für dieselbe gegen den über mächtigen Nachbar, also auf Einschränkung der Dkacht dieses Letzten: be dacht sein. Sehr treffend hat Palmerston den Angelpunkt der Frage be zeichnet. Die Bcschühung der Türkei ist nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck. Der eigentliche Zweck ist die Beschränkung des russi- sehen Ehrgeizes, welcher die Ruhe und Sicherheit von ganz Europa bedroht. Daher ist auch vom Anfänge an die schwebende Frage nicht als eine blos russische, sondern als eine europäische behandelt worden; daher hat man in allen diplomatischen Aktenstücken den Angriff Rußlands als nicht blos gegen die Türkei, sondern durch diese auf das ganze westliche Europa gerichtet bezeichnet. Die NuffenfreuNde und ihre geheimen Bundesgenossen, die Friedens fanatiker, werden in den Aeußerungcn Lord I. Nuffcll's neuen Stoff zu schönen Deklamationen über die Unvernünftigkeit jenes Kriegs finden, der angeblich zum Schutz der Türkei unternommen, jetzt gegen deren eigenen Wunsch und Willen fortgesührt werde. Es sind das dieselben Leute, welche früher nicht Worte genug finden konnten, um einen Krieg zu verschreien, der im Interesse eines heidnischen, halbbarbarischcn, im Verfall begriffenen, gar nicht nach Europa gehörigen Volts unternommen wurde. Conscquenterwcisc müßten sie es daher nur gutheißen, wenn die Westmächte ausdrücklich ihren Unternehmungen gegen Rußland ein anderes Ziel als das bloße Interesse der Türkei anwiescn. Wenigstens diese verfahren nur consequent, indem sic einen Krieg, den sic ausgcsprochencrmaßcn nicht für die Türkei als solche, sondern nur für sie als ein nothwendigcs Moment in dem allgemeinen eu ropäischen Gleichgewicht angcfaugen haben, auch nicht nach dem Belieben der Türkei, sondern nur nach vollständiger Erreichung jenes höher« Zwecks schließen wollen. Deutschland aber hat ganz besondere Ursache sich darüber zu freuen, wenn die Westmächte den Krieg von diesem allgemeinen Standpunkt aus ansehen und behandeln. Denn der Ehrgeiz Rußlands bedroht nächst der Türkei keinen Staal so sehr wie Deutschland. Hätten sich die Westmächte damit begnügt, nur etwa übel und böse einer Erneuerung russischer An- griffe auf die Türkei vorzubcugen, so hätten wir davon keinen Vortheil ge- habt, sondern nur den Nachtheil, daß Rußland dann mit seiner ganzen Wucht um so stärker auf uns gedrückt haben würde. Wird dagegen der Zweck des Kriegs höher- und weitergcstcckt, wird er auf eine allgemeine Beschränkung der gefährlichen russischen Uebermacht gerichtet, so gewinnt auch Deutschland an Sicherheit für sich. Wenn diese Wahrheit, die doch so einfach und handgreiflich ist, in den deutschen Cabineten vielfach nicht anerkannt zu werden scheint, so wird sie cs doch gewiß im Volke, und ein ganz richtiger Instinkt dcr Selbstcrhaltung, nicht eine kosmopolitische Schwär merei für die Muselmanen ist cs, was die so lebhaften und ausdauernden Sympathien für die Sache der Westmächte in dcr großen Mehrheit der deutschen Nation immerfort wachcrhält. - Deutsch la Preußen. ? Berlin, 14. Aug. Wie in hiesigen militärischen Krei sen verlautet, dürften die angcdeutetcn Zusammenziehungen von großen Trup pentheilen bchufs der ausgedehnten Feldübungen theilwcise nicht statt- habcn. Auf welche Provinzen diese Angabe Bezug hat, ist noch nicht genauer bekannt. Gesundheitliche Rücksichten möchten dabei wol Hauptfach- lich vorwaltcn. — Die vom König für den 1. Sept, beabsichtigte Reise nach Königsberg, um der dort stattfindenden Jubelfeier der Stadt beizu- wohnen, wird hier vielfach besprochen, da eine große Anzahl hochgestellter Männer sich auch um diese Zeit nach Königsberg begeben dürfte. Ueber- haupt scheint jenes Fest ein prachtvolles zu werden und demselben von Seiten des königlichen Hofs ein besonderer Glanz verliehen werden zu sollen. Soviel man bisjetzt hört, wird die Königin ihren Gemahl auf der Reise nach Kö nigsberg begleiten. Bei Gelegenheit der Anwesenheit des Königs in dcr Provinz Preußen wird Letzterer auch der feierlichen Grundsteinlegung dcr landwirthschastlichen Bildungsanstalt zu Waldau beiwohnen. Daß bei dcr Gegenwart des Königs in jener an Rußland grenzenden Provinz von Seiten des kaiserlich russischen Hofs Alles aufgcbotcn werden wird, um den König würdig zu begrüßen, ist bei dem gegenwärtigen Stande der Dinge wol vorauszusctzen. Die Beziehungen dcs diesseitigen Hofs und deS russischen sind in diesem Augenblick sehr freundliche. — Die Rücksichtnahme, welche Rußland nach dem jetzt gegebenen Versprechen dem preußischen Handel und soweit auch jenem dcs Zollvereins angedeihen lassen will, bewirkte bei dem hiesigen Handcsstande in diesen Tagen bereits einen großen Eindruck, da selbiger bei der Sache sehr bethciligt ist. Ucbrigens wird das Ganze nicht als ein Zugeständniß Rußlands betrachtet, da die unbeschränkteste Verkehrs freiheit durch die frühern Verträge zwischen Rußland, Preußen und Oester reich gewährleistet war und Rußland auf diese Weise nur zu seiner Ver pflichtung zurückkchrt. Die Hauptsache des hiesigen Handelstandes besteht darin, daß auch eine Gewährleistung für die Zukunft gefunden werde, da Preußen in dieser Beziehung so bittere Erfahrungen gemacht hat. — Die telegraphische Nachricht, daß von Seiten der Russen eine Brücke über die scwastop vier Bucht zur Verbindung dcs Südufcrs mit dem Nordufer gebaut werde, wird in mehren hiesigen militärischen Kreisen, im Gegensatz zu dcr allgemeinen Auffassung, dahin gedeutet, daß die Russen selbst einen Angriff beabsichtigten. Nicht blos für den möglichen Fall eines Rückzugs der russi schen Besatzung von Sewastopol sei der Bau dieser Brücke beschlossen. — In nerhalb der hiesigen jüdischen Gemeinde, in welcher bekanntlich seit einer Reihe von Jahren, infolge dcr Reformen, viele wesentliche Streitigkeiten stattgefundcn haben, ist nun auch zwischen dcr Majorität des Rabbinats und dcr Vertretung der Gemeinde eine erhebliche Meinungsverschiedenheit, welche sich auf mehre von dcr Vertretung dcr Gemeinde beschlossene Aen- dcrungen des Gottesdienstes bezieht, ausgebrochcn. Gegen das Gutachten dcr Majorität des hiesigen Rabbinats will die Vertretung der Gemeinde diese Aendcrungcn in dcr großen Synagoge einführcn, wogegen nun wie der, wie man hört, die Majorität des Rabbinats sogar Verbot eingelegt hat, welches in dcr Kirchcnsprache der Juden „mit dem Jsscr belegen" hei-