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Peter Tschaikowskis Sinfonie Nr. 6, h-Moll, op. 74 entstand 1893, im letzten Lebensjahre des Komponisten, und wurde kurze Zeit vor dem Tode des großen russischen Meisters in Petersburg uraufgeführt. Tschaikowski, der das Werk selbst dirigierte, trat damit zum letzten Male in der Öffentlichkeit auf. Die „Sechste“, das letzte große Werk des Komponisten, stellt schlechthin einen Gipfelpunkt in seinem gesamten Schaffen dar. Sie wurde tatsächlich sein „bestes Werk“, wie Tschaikowski mehrfach während der Arbeit an der Sin fonie geäußert hatte. Sie wurde zugleich sein Requiem. „Du weißt, daß ich im Herbst eine zum größten Teil schon fertig kom ponierte und instrumentierte Symphonie vernichtete, und das war gut, denn sie enthielt wenig Wertvolles und war nur ein leeres Ton J geklingel ohne wirkliche Inspiration. Während der Reise kam mil der Gedanke an eine neue Symphonie, diesmal eine Programmsym phonie, deren Programm aber für alle ein Rätsel bleiben soll. .. Die ses Programm ist durch und durch subjektiv... Der Form nach wird diese Symphonie viel Neues enthalten, unter anderem wird das Fi nale kein lärmendes Allegro, sondern im Gegenteil ein sehr lang gedehntes Adagio sein.“ Diese Briefstellen des dreiundfünfzigjährigen Tschaikowski an seinen Neffen Wladimir Dawidow zeigen, aus wel cher Situation heraus die „Sechste“ entstanden ist. Die äußeren Le bensumstände des Meisters waren mit zunehmendem Alter durch sich steigernde Ruhelosigkeit, innere Gegensätzlichkeit und Zerrissen heit gekennzeichnet. Nur die Flucht in rastloses Schaffen verhalf ihm zu relativem Gleichgewicht. Leidenschaftlichster, unmittelbarer Aus druck der ihn bewegenden, ja fast zerreißenden Gegensätze wurde seine sechste Sinfonie. „In diese Sinfonie“, schrieb Tschaikowski, „legte ich ohne Übertreibung meine ganze Seele; ... ich liebe sie, wie ich nie zuvor eine meiner Schöpfungen geliebt habe.“ Wie viele seiner letzten Werke ist auch die „Sechste“ von leidvollen Stimmungen durchzogen, aber nie im Sinne pessimistischer Hoffnungslosigkeit, Todessehnsucht oder willenloser Passivität. Auch im Ausdruck des Tragischen, der Klage, schwingt bei Tschaikowski seine leidenschaft liche Liebe zum Leben mit, seine Überzeugung von den erstaunlichen Kräften der menschlichen Seele, seine Verehrung für alles Schöne und Gute im Leben des Menschen und in der Natur. Unter den nach gelassenen Papieren des Komponisten fand sich ein Programment wurf für die „Sechste“, nach dem die eigentliche Idee des Werkes mit dem Wort „Leben“ charakterisiert wird. Diese Idee, die ganz allge mein das Auf und Ab der dargestellten Stimmungen deutlich macht, aber durchaus in einem innigen Zusammenhang mit dem Leben des Komponisten steht, hilft dem Hörer beim Verständnis des Werkes, wenn es sich auch ganz und gar nicht um ein „Programm“ im Sinne der illustrativen Programmatik Berlioz’, Liszts oder Richard Strauss’ handelt. Tschaikowskis Bruder Modest erzählt uns in seiner Biographie, wie die sechste Sinfonie ihren Beinamen „Pathetique“ erhielt. Am Tage nach der Uraufführung grübelte der Komponist über einen treffenden Titel, für sein neuestes Werk, dessen ursprünglicher Name „Pro grammsinfonie“ ihm plötzlich nicht mehr gefiel. Modest schlug ihm „Tragische Sinfonie“ vor, aber auch das mißfiel ihm. „Ich verließ bald darauf das Zimmer, bevor Peter Iljitsch noch zu einem Entschluß gekommen war. Da fiel mir plötzlich die Bezeichnung ,Pathetique 1 ein. Sogleich kehrte ich wieder ins Zimmer zurück — ich erinnere mich noch so deutlich daran, als ob es gestern gewesen wäre! — und schlug sie Peter Iljitsch vor, der begeistert ausrief: .Ausgezeichnet, Modi, bravo! Pathetique' — und dann setzte er in meiner Gegenwart den Titel ein, durch den die Sinfonie überall bekannt geworden ist.“ Wenn Tschaikowski in formaler Hinsicht von „viel Neuem“ in seiner „Sechsten“ spricht, so gilt das für die enorme Gegensätzlichkeit der Themen und der daraus resultierenden Verarbeitung sowie für die Umstellung der Sätze gegenüber der traditionellen Norm. Diese Sätze wiederum sind im einzelnen durch eine große Strenge, Klarheit und Konsequenz des Aufbaus gekennzeichnet. Sie bedingen sich gegen seitig im Sinne aussagemäßiger Kontraste, sind aber auch durch ge meinsame Elemente miteinander verbunden (Tonfortschreitungen; spezifisch nationaler Charakter). Der inhaltliche Schwerpunkt der Sinfonie ist wohl der erste Satz, ein komplizierter Sonatenhauptsatz. Bereits in der melancholischen Adagio-Einleitung spricht sich das Kernmotiv des nachfolgenden Allegro-Satzes aus, dort allerdings ins Erregte gesteigert. Lichter, freudvoller ist das kontrastierende zweite Thema in den sordinierten Violinen angelegt. Aus dem Kampf dieser konträren Stimmungen entwickelt sich eine teils leidenschaftlich-dramatische, teils lyrisch innige Musik, auf die sich die Bezeichnung „Pathetique“ bezieht. Der zweite Satz (Allegro con grazia) hat elegant-tänzerischen, ja walzer artigen Charakter. Der ungewöhnliche 5 /4-Rhythmus verweist auf die russische Volksmusik. Heitere, anmutige Stimmungen herrschen vor, lediglich im Mittelteil (con dolcessa e flebile) klingen die Nachtseiten des vorangegangenen Satzes als monotone Melancholie herein. Der dritte Satz (Allegro molto vivace), teils wispernd, teils schwungvoll mitreißend, ist ein mächtiger Bau, der Scherzo und Marsch innig ver knüpft. Abweichend von der Tradition des sinfonischen Zyklus, hat Tschaikowski als Finale einen langsamen Satz geschrieben, ein Adagio lamentoso, das in seiner tragischen Haltung an den ersten Satz anschließt, in seiner Schilderung des Leides in denkbar großem Gegensatz zu den beiden lebensbejahenden Mittelsätzen steht. Zwei Themen stehen miteinander in einem gespannten Verhältnis. Die