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liehe Probleme der Musik, die die Erkenntnis gewinnen halfen, mehr über Musik wissen zu müssen. Das waren für alle Gesprächspartner fruchtbare Diskussionen. Das inhaltliche Anliegen seines neuen Wer kes deutete der Komponist selbst folgendermaßen: ..Den Titel ,Impulse' inspirierten die gesellschaftlichen Partner, als ich während der Entstehungszeit des Werkes mit ihnen diskutierte, weil ihnen die Musik als anregender Impetus erschien, ihnen als An stoß zur Erkenntnis, als Beweggrund dynamischer Ereignisse vor kam. Das liegt nicht nur an der geschärften Melodik und gespannten Harmonik, sondern vor allem an der Form. Dialektik zeigt sich an den Widersprüchen. Die wichtigste Stufe der Dialektik ist die Anti these, der Gegensatz, der Kontrast, das Dagegenstehende. Daraus entwickeln sich Probleme und Lösungen. Das Werk ist aus Kontra sten aufgebaut, aus Partien der Gegensätze innerhalb der Faktur, des Tempos, der Farbe, der Dynamik, die sich zu einem in sich ge schlossenen Ganzen formen sollen. Dieses Werden gilt es zu erleben, diesen Prozeß muß man als Hörer wach nachempfinden, um dadurch zu neuen Erkenntnissen zu gelangen; und wenn es nur die Erkennt nis wäre: auch Neues hat seine — oft noch nicht ganz überschau baren — Qualitäten. Diesem Neuen mit Wohlwollen gegenüberzu treten, hilft dem Hörer, neue Wege zur Erkenntnis zu finden. Und jede neue Erkenntnis kann zu einem geistigen Genuß werden.“ Sergej Prokofjew schuf zwei Violinkonzerte. Das erste, op. 19, D-Dur, entstand bereits in den Jahren 1915—17 — die in Petrograd vorgesehene Uraufführung mußte wegen der Revolutionsereignisse abgesagt werden —, das zweite, op. 63, g-Moll, wurde 1935 — als Auftragswerk für den Geiger Robert Seutance, den er 1934 in Paris kennengelernt hatte — voll endet. Während einer Konzerttournee mit dem Geiger Seutance im Winter 1935/36 durch Spanien, Portugal, Marokko, Algier, Tunis ge langte das Violinkonzert Nr. 2, das aus dem ursprünglichen Plan einer Violinsonate erwachsen war, am 1. Dezember 1935 im re volutionär bewegten Madrid zur erfolgreichen Uraufführung — am Vorabend des Sieges der republikanischen Volksfront. „Fast im Gegensatz zu der gärenden Umwelt, in der das Konzert zum ersten mal erklang, gibt sich das Werk selbst lyrisch und zurückhaltend — bis auf den an aggressiven Elementen reichen und im Klang etwas harten Finalsatz. Ein amerikanischer Kritiker (Gerald Abraham, .Prokofjew als Sowjetbürger 1 ) stellte fest: das Wesen des Konzerts liege in der .Betonung der lyrischen Seite seines Wesens unter Ver zicht auf seine humorvollen, grotesken und brillanten Wesenszüge 1 . Damit ist das zweite Konzert deutlich vom ersten Konzert geschieden, das vom Kontrast zwischen lyrischen und grotesken Elementen lebte. Dazwischen lagen beinahe zwanzig Jahre. Prokofjew hatte die Revo lution erlebt, war ins Ausland gegangen, nach Jahren heimgekehrt und erfuhr eine innere Revolution, die Neues gebar. Das Neue war das Erlebnis der Freiheit und der Zukunftsfreude in einem Sechstel der Erde, das Prokofjew zur stärkeren Beachtung seiner lyrisch-melo dischen Begabung anregte, die er in der Pariser Zeit wenig hatte zu Wort kommen lassen ... Wie in kleinen Formen versuchte Prokofjew auch in großen Werken wie dem Violinkonzert zu lyrischen und melo dischen Gestaltungsprinzipien vorzustoßen, die jede scharfe Harmo nik und Instrumentation und ungewöhnliche, konstruktive Melodik meiden. Der Stil des neuen Konzerts ist kammermusikalisch, ohne 'übertrieben virtuose Elemente. Auffällig ist die wieder gewonnene Vor liebe für den traditionellen Aufbau der Form, die sogar so weit geht, daß Prokofjew in Klang, Melodik und innerer Formstruktur auf ro mantische Mittel zurückgreift, die den ,Schumannianer‘ der Jahre vor der Emigration verraten. Erstmalig nach langen Jahren ist — vor allem in der Melodik — wieder die russische Intonation spürbar“ (F. Streller). Dieser Sprung zur neuen Qualität gelang dem Kompo nisten auch mit dem fast gleichzeitig entstandenen Ballett „Romeo und Julia“, das in seiner Lyrik mit dem zweiten Violinkonzert ver wandte Züge aufweist. Den ersten Satz (Allegro moderato) bestimmen weit ausschwingende, lyrisch-melodische Linien. Das von der Solovioline angestimmte Hauptthema gibt sich liedhaft, betont national und romantisch im Habitus. Marschrhythmen und Passagen führen zum zweiten Thema, das noch inniger, lyrisch-kantabler ist als das erste und mit seinen weitgespannten Intervallen, empfindsamen Wendungen und elegan ten Modulationen zu den schönsten Eingebungen des reifen Prokof jew gehört. Der konfliktlosen Exposition folgt ein Satzverlauf, der in der Durchführung auch dramatischere Formen annimmt. — Gelassen und freundlich hell ist die Stimmung des zweiten Satzes (Andante), der an Prokofjews „Klassische Sinfonie“ gemahnt und nach klassi schen Entwicklungsprinzipien geformt ist: Variation und Polyphonie. Das kantable Thema des Soloinstrumentes erhebt sich über ostinater Trioienbewegung und wird verschiedentlich abgewandelt. — Das bis dahin zurückgehaltene Temperament Prokofjews bricht sich im stür misch-tänzerischen, ausgelassenen, betont dynamisch-rhythmischen Finale (Allegro ben marcato) seine Bahn. Dieses „Tanzstück“ tragen verschiedene thematische Gestalten: ein feuriges Hauptthema und zwei Seitengedanken von leidenschaftlich-drängendem, jedoch kan- tablem und von unruhig-elegischem Charakter. Die Reprise zeichnet sich durch harmonische „Würzen“ in Form ausgelassener Akkord schichtungen aus. Mit bacchantischem Ungestüm, mit einigen harten Akkorden schließt das Werk.