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DRESDNER PHILHARMONIE Sonnabend, den 9. Dezember 1972, 20.00 Uhr Sonntag, den 10. Dezember 1972, 20.00 Uhr Festsaal des Kulturpalastes Dresden 5. ZYKLUS-KONZERT UND 5. KONZERT IM ANRECHT C MENDELSSOHN - BRAHMS - REGER Dirigent:. Günther Herbig Y imko Shiokawa, Japan Solistin: -SRvio Morcevicih-SR-Rumänien, Violine Max Reger 1873-1916 Johannes Brahms 1833-1897 Konzert im alten Stil op. 123 Allegro con spirito Largo Allegro Soloviolinen: Konzertmeister Walter Hartwich Konzertmeister Günter Siering Konzert für Violine und Orchester D-Dur op. 77 Allegro non troppo Adagio Allegro giocoso, ma non troppo vivace PAUSE Felix Mendelssohn Bartholdy Sinfonie Nr. 4 A-Dur op. 90 (Italienische) 1809-1847 ai | e g ro vivace Andante con moto Con moto moderato Presto SILVIA MARCOVlCl, 1952 in Bacau (Rumänien) geboren, begann ihr Violinstudium im Alter von sieben Jahren an der Musikschule ihrer Geburtsstadt und gewann bereits als 10- und 12jährige jeweils einen 1. Preis im nationalen Wettbewerb für junge Künstler. Als Schülerin Prof. Avachians und — seit 1965 — Stephan Gheorghius studierte sie sodann am Bukarester Konservatorium. 1968 spielte die 16jährige Geigerin erstmals außerhalb ihrer Heimat in den Niederlanden und errang einen sensationellen Erfolg, der sich auch bei ihrem ersten DDK- Gastspiel, im Januar 1970 bei der Dresdner Philharmonie, wiederholte. Kurt Masur hatte die junge Künstlerin in den Niederlanden kennengelernt und sie sofort nach Dresden verpflichtet. 1969 gewann Silvia Marcovici den 2. Preis und den Sonderpreis des Internationalen „Marguerite-Long-Jacques-Thibaud-Wettbewerbes" in Paris, und 1970 wurde sie 1. Preisträgerin im Internationalen George-Enescu-Wettbewerb Bukarest. 1971 gastierte sie zum zweiten Male bei der Dresdner Philharmonie. ZUR EINFÜHRUNG Die Dirigententätigkeit in Meiningen regte Max Reger 1912 zu dem Kon zert im alten Stil op. 123 an, das Willem Mengelberg am 8. Oktober jenes Jahres in Frankfurt a. M. zur Uraufführung brachte. Das Werk greift die Praxis des Concerto grosso, also das konzertante Prinzip der Bach- und Händel-Zeit, auf. Mit ihm begann jene Reihe von Konzertmusiken, die in der sogenannten „neobarocken" Musizierweise neuer Musikbestrebungen etwa zwischen 1920 und 1930, vor allem in einigen Werken Paul Hindemiths, ihre Höhepunkte erreichte. Das dreisätzige Werk beginnt mit einem klarprofilierten Thema. Dieses Thema trägt so unverkennbar Bachsche Züge, daß zunächst beinahe von einer Stil kopie gesprochen werden kann. Schon die ersten Seiten der Partitur zeigen, daß Reger den Wechsel von Tutti, von konzertierenden einzelnen zusammen gehörigen Klanggruppen und von tatsächlichen Solisten durchführt. Meist bringt er eine Klanggruppe unvermischt mit anderen oder setzt sie als motivisch streng in sich geschlossene Gruppe gegen eine andere. Eine Solovioline tritt (übrigens auch im Schlußsatz) besonders hervor. Reger läßt den ersten Satz in kraftvoller Bewegtheit allmählich immer langsamer auslaufen, ähnlich seinen berühmten Orchesterfugen in den Hiller- und Mozart-Variationen. Der zweite Satz stellt ein tiefempfundenes Largo dar mit einem ausdrucks starken Thema. Zwei Soloviolinen stimmen in dieses sehr elegisch gehaltene Musizieren ein. Der Schlußsatz greift die Musizierfreudigkeit des ersten Satzes wieder auf. Audi dessen Thema ist vorklassisch empfunden. Wirkungssicher schließt das Werk, jene Monumentalität bewirkend, die Reger von der Orgel her in Fleisch und Blut übergegangen war. Johannes Brahms schrieb sein einziges, im Jahre 1878 komponiertes V i o - I i n konzert D - D u r op. 77 für seinen langjährigen Freund, den berühmten Geiger Joseph Joachim, der ihm auch bei der Ausarbeitung der Solostimme in violintechnischen Fragen ratend zur Seite stand (ohne daß Brahms allerdings auf alle Änderungsvorschläge Joachims eingegangen wäre). „Nun bin ich zufrieden, wenn Du ein Wort sagst und vielleicht einige hineinschreibst: schwer, unbequem, unmöglich usw.", können wir in einem Brief vom August 1878 an Joachim lesen, den der Komponist ihm zusammen mit der zu begutachtenden Violinstimme schickte. In seiner Antwort darauf bemerkte der Geiger, daß „das meiste . . . herauszukriegen" und ein Teil sogar „recht originell violinmäßig" sei. Bereits am Neujahrstag des folgenden Jahres wurde das in einer glücklichen, fruchtbaren Schaffensperiode entstandene Werk (auch die zweite Sinfonie D-Dur und das zweite Klavierkonzert B-Dur stammen aus dieser Zeit und zeigen manche dem Violinkonzert verwandte Züge) mit Joachim als Solisten unter Brahms’ Leitung in Leipzig uraufgeführt. Das Konzert, das sich in bezug auf Aussage, Form und Anlage außerordentlich vom Typ des zeitgenössischen Virtuosenkonzertes unterscheidet, war vom Kom ponisten zuerst viersätzig geplant worden. Da Brahms aber „über Adagio und Scherzo gestolpert ist”, komponierte er den Adagio-Satz neu und ließ die beiden ursprünglichen Mittelsätze wegfallen. Trotzdem ist die ausgesprochen sinfonische Anlage des Konzertes unverkennbar. Schon Clara Schumann äußerte nach dem Kennenlernen des ersten Satzes, „daß es ein Konzert ist, wo sich das Orchester mit dem Spieler ganz und gar verschmilzt". Niemals ist die virtuose Violintechnik hier Selbstzweck, wie bei so vielen zeitgenössischen Solokonzerten, sondern in vertiefter, gehaltvoller Gestaltung stets als dienendes Glied in den sinfonischen Ablauf eingefügt, wobei (für Brahms’ Zeit ganz neue) große Aufgaben an den