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DRESDNER PHILHARMONIE Freitag, den 4. Februar 1972, 20.00 Uhr Sonnabend, den 5. Februar 1972, 20.00 Uhr Festsaal des Kulturpalastes 6. PHILHARMONISCH ES KONZERT Dirigent: Kurt Masur Solistin: Eleonore Wikarski, Berlin, Klavier Arvo Pärt geb. 1935 Sinfonie Nr. 1 Kanons Präludium und Fuge Dmitri Schostakowitsch geb. 1906 Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 F-Dur op. 192 Allegro Andante Allegro PAUSE Antonin Dvorak 1841-1904 Sinfonie Nr. 9 e-Moll op. 95 (Aus der Neuen Welt) Adagio — Allegro molto Largo Scherzo (Molto vivace) Allegro con fuoco Das Konzert am 4. Februar überträgt Radio DDR II im Rahmen des „Dresdner Abends" original ELEONORE WIKARSKI wurde in Berlin geboren und erhielt ersten Klavierunterricht durch ihren Vater. Romuald Wikarski, Professor an der Hochschule für Musik Berlin. Dann war sie Schülerin von Prof. Fritz Thöne. 1952 studierte sie an der Hochschule für Musik Berlin bei Prof. Helmut Roloff und vervollkommnete ihre Ausbil dung danach bei Prof. Otto Rausch und Julius Katchen. Seit ihrem 14. Lebensjahr öffentlich auftretend, gewann sie 1958 gemeinsam mit ihrer Schwester, der Cellistin Cordelia Wikarski, beim VII. Inter nationalen Wettbewerb der Rundfunkanstalten in München den 1. Preis für Duo-Spiel und konzertierte seit 1959 mit führenden Orchestern (bei der Dresdner Philharmonie war sie zuletzt 1966 zu Gast). Solo- und Duo-Abende gab die junge Künstlerin im Rahmen der „Stunde der Musik", und zahlreiche Rundfunk- und Fernsehaufnahmen wurden mit ihr in der DDR, in Westdeutsch land und in der Sowjetunion veranstaltet. Gastspielreisen führten Eleonore Wikarski bisher nach Dänemark, Schweden, in die Sowjetunion, CSSR, nach Finnland, Westdeutschland, Indien, Österreich und in den Irak. ZUR EINFÜHRUNG Der 1935 geborene estnische Komponist Arvo Pärt gehört zu den eigenstän digsten Begabungen innerhalb der jüngeren Komponistengeneration der So wjetunion. Seit 1957 tätig als Tonregisseur am Rundfunk der Estnischen SSR, absolvierte er von 1958 bis 1963 an der Tallinner Musikhochschule noch ein Kompositionsstudium bei dem prominentesten estnischen Komponisten und Kompositionslehrer Prof. Heino Eller. Charakteristische Züge der Eller-Schule treten in der lakonischen, höchst konzentrierten Ausdrucksweise Pärts denn auch hervor. Zwei vokalsinfonische Werke des Komponisten — die Kinderkantate „Unser Garten" (1959) und das Oratorium „Schritt der Welt" (1961) — wurden 1962 auf einer Allunionsleistungsschau junger Komponisten in Moskau mit dem ersten Preis ausgezeichnet. 1963 entstand das Luigi Nono gewidmete Orche sterwerk „Perpetuum mobile", 1964 folgte die Sinfonie Nr. 1, die auf un serem heutigen Programm steht. Weiterhin sind Kammermusikwerke (u. a. ein Streichquartett) zu nennen. Die überaus knapp und prägnant geformte, keinen Mittelaufwand treibende I. Sinfonie Arvo Pärts,. die der Komponist übrigens seinem Lehrer zueignete, besitzt eine ungewöhnliche Anlage. Sie besteht nämlich nur aus zwei Sätzen, die die Vorliebe des Komponisten für vorklassische, nicht unbedingt sinfonische Gestaltungsweisen erkennen lassen: I. Kanons, II. Präludium und Fuge. Doch handelt es sich keineswegs um ein historisierendes Musizieren. Arvo Pärt ist ein Musiker unserer Zeit, der sich der Tradition mit echtem Neuerertum nähert. So dienen ihm alte kompositionstechnische Praktiken, die er außerdem sehr mo difiziert anwendet, dazu, Neues zu sagen — und zwar in sehr klarer, diszipli nierter Weise. In organischer Form verschmelzen in dem Werk kanonische und Fugenkünste, motivische Imitationen mit neuen Spielweisen, dodekaphonen Ordnungsprinzipien und improvisatorischen Elementen. Das Ergebnis ist eine herb getönte, architektonisch gut gegliederte, rhythmisch spannungsvolle musi kalische Aussage, die durchaus sinfonische Ansprüche erfüllt. Kommt es im viel fältigen kanonischen Geschehen des ersten Satzes nur an wenigen Stellen zu Ausdrucksverdichtungen, ist immer wieder stimmliche Entflechtung da;, Ziel, so ballt sich die musikalische Entwicklung im zweiten Satz stellenweise zu stärkerer Kompaktheit zusammen, deren rhythmische Intensität an Bartök denken läßt. Von Dmitri Schostakowitsch, dem unbestreitbar bedeutendsten und eigenwilligsten sowjetischen Komponisten, der darüber hinaus zu den profiliertesten und führendsten Persönlichkeiten der internationalen Gegenwarts- Musik zählt, erklingt ein Werk, das den großen Meister der Sinfonie (bis jetzt liegen 15 Belege vor, überragende Dokumente zeitgenössischer Sinfonik, dane ben Beiträge zu fast jeder musikalischen Gattung) einmal von einer anderen Seite zeigt: das seinem Sohn Maxim gewidmete Konzert Nr. 2 für Kla vier und Orchester F-Dur op. 102 aus den Jahren 1956 57. Maxim Schostakowitsch spielte den Klavierpart bei der Moskauer Uraufführung des Konzertes am 10. Mai 1957, seinem 19. Geburtstag. Das erste Werk dieser Gattung schrieb Schostakowitsch bereits 1933 als op. 35, ein kammermusikalisch-durchsichtiges Opus, das neben dem Klavier auch die Trompete solistisch beschäftigt und sich musikalisch durch Witz, Ironie und gro teske Parodien auszeichnet. Dem damals eingeschlagenen Weg folgte der Kom ponist auch in seinem zweiten Klavierkonzert, das man — nach seiner inneren Haltung — ein Konzert für die Jugend nennen möchte, obwohl es stets erken nen läßt, daß sein Autor ein ausgezeichneter Pianist ist. Das zweite Klavier konzert, dessen geistvolle Thematik manchmal an Poulenc und Prokofjew erin nert, geht wie das erste allem romantisch-emotionalen Überschwang aus dem Wege, obwohl es tonal traditioneller, harmonisch weniger kühn angelegt ist