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DRESDNER PHILHARMONIE Sonnabend, den 19. Februar 1972, 20.00 Uhr Sonntag, den 20. Februar 1972, 20.00 Uhr Festsaal des Kulturpalastes Dresden 6. ZYKLUS - KONZERT UND 6. KONZERT IM ANRECHT C Dirigent: Solisten: Lothar Seyfarth Helga Termer, Dresden -Ros-witho--froxlor, Loipaig, Sopran Hannerose Katterfeld, Berlin, Alt Günter Neumann, Berlin, Tenor Siegfried Lorenz, Berlin, Bariton Chor: Philharmonischer Chor Dresden Einstudierung Wolfgang Berger Rudolf Wagner-Regeny Gesänge des Abschieds für Bariton und Orchester 1903—1969 nach Dichtungen von Hermann Hesse Wie sind die Tage Abendgespräch Gang bei Nacht Nach dem Fest Der Künstler Uraufführung Wolfgang Amadeus Mozart Sinfonie g-Moll KV 183 1756—1791 Allegro con brio Andante Menuetto Allegro PAUSE Johann Sebastian Bach Kantate Nr. 206 „Schleicht, spielende Wellen" 1685—1750 für Sopran, Alt, Tenor, Bariton, Chor, Orchester und Continuo Text frei nach der Umdichtung von Wilhelm Rust und Woldemar Voigt ZUR EINFÜHRUNG Rudolf Wagner-Regeny, am 28. August 1903 in Szäsz-Regen (Sieben bürgen) geboren, verbrachte Kindheit und Schulzeit noch in der verfallenden österreichisch-ungarischen Monarchie. Kurz nach dem ersten Weltkrieg begann er sein Studium am Leipziger Konservatorium, siedelte aber bald nach Berlin über, um hier nach Studien bei R. Krasselt, F. E. Koch, E. N. von Reznicek, F. Schreker und S. Ochs 1923 seine musikalische Ausbildung abzuschließen. In den Jahren 1927 bis 1930 reiste er mit Rudolf von Laban und seiner Kammertanzbühne als dessen Kapellmeister und Komponist durch Deutschland, die Schweiz und Holland. 1929 traf Wagner-Regeny in Essen mit dem Bühnenbildner, Maler und Schriftsteller Caspar Neher zusammen, der ihm in der holgezeit, beginnend mit dem „Günst ling“, die Textbücher für seine bekanntesten Opern lieferte, die den Namen des Komponisten in die Welt trugen. Der entscheidende Durchbruch gelang 1935 mit der überaus erfolgreichen Uraufführung des „Günstling" an der Staatsoper Dresden unter Karl Böhm, die schlagartig Wagner-Regeny in die vorderste Reihe der zeitgenössischen deutschen Opernkomponisten rücken ließ. 1939 folgten — unter Herbert von Karajan — die „Bürger von Calais" in Berlin, sodann 1941 an der Wiener Slaatsoper „Johanna Baik" unter Leopold Ludwig. Dann, 1943, wurde der Künstler zum Militärdienst einberufen, der schwere gesundheitliche Schädigung brachte. 1947 wurde Wagner-Regeny zum Direktor der neugegründeten Musik hochschule Rostock sowie zugleich zum Professor und Leiter der Meisterklasse für Komposition ernannt. 1950 erfolgte seine Berufung als Professor für Komposition an die ebenfalls neugegründete Deutsche Hochschule für Musik in Berlin, wo er bis 1968 wirkte. Gleichzeitig leitete er eine Meisterklasse für Kompo sition an der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin. Mit dem szenischen Ora torium „Prometheus" (nach Aischylos) wurde 1959 das neuerbaute Haus des Staatstheaters Kassel eingeweiht. 1961 gelangte während der Salzburger Fest spiele die Hofmannsthal-Oper „Das Bergwerk zu Falun" zur Uraufführung. Der Komponist verstarb am 18. September 1969 in Berlin. Wagner-Regeny, Nationalpreisträger, Ordentliches Mitglied der Deutschen Aka demie der Künste zu Berlin wie auch Mitglied der Akademie der Künste in West berlin und der Bayrischen Akademie der Schönen Künste zu München, eine der prominentesten Komponistenpersönlichkeiten unserer Republik, war vor allem Opernkomponist, der sich namentlich in den Neher-Opern der mittleren Schaffens periode als legitimer Fortsetzer des von Brecht und Weill begründeten gesell schaftskritischen, lehrhaft-epischen Musiktheaters erwies. Aber auch verschiedene gewichtige Orchester- und Kammermusikwerke, Klavierstücke, Lieder und Kan taten demonstrieren eindringlich seine auf stärkste Verdichtung der melodischen Linien bedachte Tonsprache, die das Laute, das Grelle und die Klangschwelgerei bewußt vermeidet. Seine antiromantische „Kunst der Aussparung" verbindet strenges Formbewußtsein, kunstvolle lineare Stimmführung, herben Klangcharakter mit innerer Gespanntheit des Ausdrucks. Busonis neoklassizistische Bestrebungen führte Wagner-Regeny in seinem Spätschaffen zur Synthese mit der subjektiv modifizierten Dodekaphonie. Die Konzertbesucher der Dresdner Philharmonie hatten in den letzten Jahren verschiedentlich Gelegenheit, mit den neuesten Werken des Dresden so sehr ver bundenen Komponisten bekannt zu werden. Erinnert sei an die denkwürdigen Ur aufführungen der Kantaten „Schir Haschirim" (1966) und „An die Sonne" (1971), an die Erstaufführung der „Mythologischen Figurinen" (1969) und auch an die Uraufführung der Hesse-Klavierlieder (1969). Heute gelangen nun posthum jene Gesänge des Abschieds, ebenfalls nach Dichtungen von Hermann Hesse, zur Uraufführung, die Wagner-Regeny — zunächst mit Klavierbegleitung — in ahnungsvollem Wissen um die Schwere seiner Krankheit 1968 schrieb. Diese Gesänge sowie einige Lieder nach Texten von Wedekind und Fontane (1969) sollten die letzten Kompositionen sein, die ihm zu vollenden beschieden waren. Die heute erklingende kammermusikalisch-subtile Orchesterfassung der „Ge sänge des Abschieds" schuf der Komponist noch in seinem Todesjahr. So darf der Werktitel als eine besonders persönliche und im Hinblick auf seinen baldigen Tod beziehungsvolle Formulierung verstanden werden. Im November 1968 notierte Wagner-Regeny nachstehende Zeilen, die an Stelle einer Einführung in den Zyklus stehen mögen: „Meine Worte sind weder Rechtfertigung, noch Entschuldigung. Sie sollen Klar heit erzeugen über einen Gegenstand, der der Verworrenheit anheimgefallen ist: Wir haben es uns leider angewöhnt, einen oberflächlichen Optimismus zum Maß stab zu setzen für aufbauende, lebenfördernde Kräfte, die in musikalischen Wer ken zu fordern sind. Dabei reicht die Skala menschlicher Empfindungen von tiefen, depressiven Stimmungen bis zu kräftigen, lauten Äußerungen. Freilich sind die Wertegrade bestimmt dadurch, worauf der Gegenstand sich bezieht. Man sollte meinen, daß zwei Jahrzehnte Lebens in einer Menschengemeinschaft, die sich im Gegensatz zu früheren Epochen durch die Erkenntnis des Besseren, Schöneren und Wahrhaftigen auszeichnet, dahin geführt haben, alle Regungen zu billigen, sofern sie keinen destruktiven Willen kundtun. Wenn „Gesänge des Abschieds" geschrieben werden, mögen diese Lieder von großer Traurigkeit zeugen. Pessimistisch sind sie keineswegs! Denn die Tatsache, daß sie geschrieben wurden, zeugt davon, daß die Beschreibung der Trauer ihre Ursache zwar nicht aufhebt, doch besänftigt und dadurch überwunden hat. — Es führen Einsicht und Überwindung immer dahin: gewesenes Unheil zu einstigem, unwiederholbarem Geschehnis zu machen." Der Ernst des Lebens, ja seine Tragik, scheint dem 17jährigen Wolfgang Amodeus Mozart schon bewußt gewesen zu sein, als er seine „kleine" g-Moll-Sinfonie KV 183 im Jahre 1773 schrieb (die „große" KV 550 ent stand 1788 — drei Jahre vor seinem Tod). Die kontrastreiche Dynamik, die plötzli chen Auftakte, die scharfen Akzente, die Geigentremoli des Werkes — all das weist auf persönliches leidvolles Erleben. Schmerzlichen, elegischen Charakter be sitzt das im Einklang vorgetragene Hauptthema des ersten Satzes (Allegro con brio) mit seinem typischen Septsprung. Das Andante ist kurz, aber konzentriert und zeigt erregte Vorhaltsthematik. Von herber Entschlossenheit ist der Menuett- Hauptsatz; im Trio entfalten die Bläser allein G-Dur-Freudigkeit. Wie in der „großen" g-Moll-Sinfonie, deren Stimmungsmomente hier in manchem vorweg genommen werden, wird im Finale das Menuett-Thema ausgebildet. Thematische Beziehungen bestehen auch — in synkopischen Bildungen, Akzenten — zum ersten Satz. Diese neue thematische Einheitlichkeit, die Mozart hier erstmalig entwickel te, hat für die zyklische Form der Sinfonie, die Einheit der Gattung wesentliche Bedeutung gehabt. Johann Sebastian Bachs Kantate Nr. 206 „Schleicht, s p i eie n d e We I I e n ” ist nicht mit Sicherheit datierbar. Vermutlich wurde sie anläßlich des Geburtstagsfestes Augusts III., Kurfürst von Sachsen, König von Po len, 1736 in Leipzig dargeboten und als Namenstagskantate 1740 erneut aufge führt. Aus der ursprünglichen Huldigungskantate für August HL, in der die Flüsse der sächsisch-polnischen Lande als redende Personen in Erscheinung treten, ist in der unserer heutigen Aufführung zugrunde liegenden Umdichtung des (nicht eben wertvollen) Originallibrettos eine Frühlings-Kantate geworden, die das spezifi sche naturpoetische Kolorit der Bachschen Musik weitgehend wahrt. Die Autoren der textlichen Neufassung sind Wilhelm Rust (1822—1899), seit 1880 Leipziger Thomaskantor, der mit der Umtextierung des Eingangschores begann, und Wol demar Voigt (1850-1919), der Göttinger Physiker und Musikschriftsteller, der die Arbeit weiter vorantrieb. Die bereits mehrfach, u. a. bei verschiedenen Bach-Fe sten erprobte Fassung, wurde für die heutige Aufführung in Details überarbeitet. Struktur und Musik der Kantate, die viele Kostbarkeiten Bachscher Kunst enthält, wurden in keiner Weise angetastet. Zwei akkordisch-polyphone Chöre umrahmen die Rezitative und Arien der Solostimmen, die mannigfaltige instrumentale Be handlung aufweisen.