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Programm Ottmar Gerster 1897 — 1969 Festliche Musik Franz Schubert Sinfonie h-Moll (Unvollendete) 1797-1828 Allegro moderato Andante con moto Johannes Brahms 1833-1897 Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 73 Allegro non troppe Adagio non troppe Allegretto grazioso (quasi Andantino) Allegro con spirito Zur Einführung Die Unvereinbarkeit zwischen Kunst und Leben, Wahrheit und bürgerlicher Wirk lichkeit seiner Zeit erkannte Franz Schubert um so mehr, je reifer er wurde. Seit 1819 bemächtigte sich dieser tragische Antagonismus seines Liedschaffens, seiner Kammermusik und schließlich seiner Sinfonik. Wie der schmerzlich-heftige Streich quartett-Satz c-Moll aus dem Jahre 1820 blieb auch die Sinfonie h-Moll von 1822 ein Torso und ging als Schuberts „Unvollendete“ in die Musikgeschichte ein. Zwingende äußere Gründe für die Nichtvollendung des Werkes gab es nicht. Das Schubert es nicht zum Abschluß brachte, lag wohl an der noch nicht überwundenen Unschlüssigkeit seiner Haltung: Auf der einen Seite spürte er die Übermächtigkeit jener für ihn neuen und schmerzhaften gesellschaftlichen Erkenntnis, auf der anderen Seite konnte er sich nur zögernd von einer alten Illusion lösen, vom ungetrübten Leben in der Kunst. So müssen wir uns mit den , zwei vollendeten Sätzen der Sinfonie begnügen, die uns Schuberts Durchbruch zu einer neuen, konflikthaften sinfonischen Sprache belegen, deutlich am Beethovenschen Vorbild orientiert und doch eigenständig. Wirklich tragische Gedanken finden in dem ergreifenden Werk Ausdruck. Nicht die Zerwürfnisse mit dem Vater bilden, wie vielfach angenommen wurde, den Kern des dargestellten Konflikts, sondern seine tragische Lebenserfahrung, daß seine huma nistische Lebensverbundenheit unvereinbar war mit den sich unaufhaltsam durchsetzen den kapitalistischen Produktionsverhältnissen, wenn ihm auch diese Ursache zu seinem Konflikt mit der Welt letztlich undurchschaubar blieb. Halten wir uns an seine Worte: „Wollte ich Liebe singen, ward sie mir zum Schmerz. Und wollte ich Schmerz nur singen, ward er mir zur Liebe. So zerteilte mich die Liebe und der Schmerz”— darin liegt auch der Leitgedanke seiner „Unvollendeten“ beschlossen. Das der Sinfonie in den Bässen gleichsam mottohaft vorangestellte düstere achttak tige Thema, das in der Durchführung und der Coda des ersten Satzes (Allegro mo derato) eine große Rolle spielt, läßt diesen Leitgedanken deutlich werden. Nach einem schmerzlichen Klagegesang in Oboen und Klarinetten, einem Hornruf stimmen die Celli, dann die Violinen eine wunderbare Ländlermelodie an, die so recht die Herzlich keit, Wärme und Volkstümlichkeit demonstriert, deren Schubert fähig war. Aber dieser Gesang von der Liebe wird von brutalen Fortissimo-Schlägen, des Orchesters unterbro chen, bis die Melodie wieder Kraft findet, sich durchzusetzen. Wie schon die Exposition spiegelt auch der weitere dramatische Verlauf des ersten Satzes die „Zerteiltheit“ in Schmerz und Liebe wider. Das fatalistische Mottomotiv verwandelt sich in ein hero isches Kampfmotiv. Doch den heftigen Kämpfen und Auseinandersetzungen ist kein Sieg beschieden. Mit drei gebieterischen Schlägen 'scheint der Schmerz über die Liebe zu siegen, der Tod über das Leben. Der zweite Satz (Andante con moto) versucht, fern von den Kämpfen des ersten ^Satzes einen Märchenfrieden zu gestalten, seine träumerische Ruhe vor dem Einbruch des Schmerzes, der Realität zu bewahren. Eine friedvolle Kantilene vermag denn auch im ersten Teil den Eindruck tiefer Ruhe und Ergebenheit zu erzeugen. Doch bald kommt es wieder zu einer großen Klageszene. Der Schmerz bricht erneut auf, bis er sich abermals in Liebe verwandelt. In der Reprise scheint dann die Verzweiflung noch ge steigert, bis eine endgültige Besänftigung in Wohllaut und Frieden eintritt. Johannes Brahms“ Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 73, im Jahre 1877 komponiert, entstammt einer glücklichen Lebensperiode des Meisters, deren ruhige Heiterkeit sich in den meisten der in dieser Zeit vollendeten Werke widerspiegelt. So ist auch die Grundstimmung der D-Dur-Sinfonie durch Lebensbejahung, Lebensfreude und innere Gelöstheit gekennzeichnet. Das Werk, das oft als die „Pastorale“ des Komponisten bezeichnet wurde, steht in starkem Gegensatz zu der vorangegangenen, leidenschaft lich-kämpferischen c-Moll-Sinfonie und verhält sich zu ihr vergleichsweise etwa wie Beethovens „Sechste“ zu seiner „Fünften“ oder Dvoraks achte Zur siebenten Sin fonie. Landschaftliche Eindrücke, Naturstimmungen sollen auch bei der Entstehung dieser Brahms-Sinfonie eine wesentliche Rolle gespielt haben. „Das ist ja lauter blauer Himmel, Quellenrieseln, Sonnenschein und kühler, grüner Schatten. Am Wörther See muß es doch schön sein“, äußerte der dem Komponisten befreundete Chirurg Theodor Billroth zu der in wenigen sonnenerfüllten Sommermonaten in Pörtschach am See in den Kärnter Bergen geschriebenen Komposition, die in ihrer pastoralen Lieblichkeit dem ein Jahr später dort entstandenen Violinkonzert nahe verwandt ist. „Eine glück liche, wonnige Stimmung-geht durch das Ganze, und alles trägt so den Stempel der Vollendung und des mühelosen Ausströmens abgeklärter Gedanken und Warmer Em pfindungen.“ Doch entbehrt das sehr einheitliche und geschlossene, an herrlichen Ein fällen überreiche Werk trotz seiner lichten und freudigen, lyrischen Grundhaltung keineswegs kraftvoller, ja zum Teil auch tragischer Töne. Am 30. Dezember 1877 fand die Uraufführung der Sinfonie (die Brahms übrigens in einem Brief an seinen Verleger Fritz Simrock humorvoll „das neue liebliche Ungeheuer“ nannte) durch die Wiener Philharmoniker unter der Leitung von Hans Richter statt; Clara Schumanns Voraussage „Mit dieser Sinfonie wird er auch beim Publikum durchschlagenderen Erfolg haben als mit der ersten“ sollte sich dabei nachhaltig bestätigen.