Volltext Seite (XML)
ar n Freitag, dem 5. Mai 1972, 19.30 Uhr Konzert der Dresdner Philharmonie Dirigent: Kurt Sanderling, Berlin Solist: Andrej Korsakow, Sowjetunion - Violine PROGRAMM FOLGE Modest Mussorgski 1839—1881 Vorspiel zu „Chowanstschina" Peter Tschaikowski 1840—1893 Konzert für Violine und Orchester D-Dur op. 35 Allegro moderato Canzonetta (Andante) Finale (Allegro vivacissimo) PAUSE Franz Schubert 1797—1828 Sinfonie C-Dur op. posth. Andante — Allegro ma non troppo Andante con moto Scherzo (Allegro vivace) Allegro vivace Peter Tschaikowski, der große russische Meister, schrieb wie Beethoven und Brahms lediglich ein Violinkonzert, das allerdings wie deren Werke gleichfalls zu den Glanzstücken der internationalen Konzertliteratur gehört. Das in Ausdruck und Stil charakteristische, eigenwüchsige Werk, in D-Dur stehend, wurde als op. 35 Anfang März 1878 in Clärens am Genfer See begonnen und Ende April desselben Jahres endgültig fertiggestellt. Tschaikowski widmete das ausgesprochene Virtuosenstück ursprünglich dem Geiger Leopold von Auer, der es aber zunächst als unspielbar zurückwies und sich erst viel später für das Werk einsetzte. Die Uraufführung wagte schließlich Alexander Brodski am 4. Dezember 1879 in Wien unter der Leitung Hans Richters. Unfaßbar will es uns heute erschei nen, daß das Werk vom Publikum ausgezischt wurde! Die Presse war geteilter Meinung. Der gefürchtete Wiener Kritiker Dr. Eduard Hanslick, Brahms-Verehrer und Wagner-Feind, beging mit seiner Rezension des Tschaikowski-Konzertes wohl einen seiner kapitalsten Irrtümer. Er schrieb unter anderem: „Da wird nicht mehr Violine gespielt, sondern Violine gezaust, gerissen, gebleut. Ob es überhaupt möglich ist, diese haarsträubenden Schwierigkeiten rein herauszubringen, weiß ich nicht, wohl aber, daß Herr Brodski, indem er es versuchte, uns nicht weniger gemartert hat als sich selbst. . . Tschaikowskis Violinkonzert bringt uns zum er stenmal auf die schauerliche Idee, ob es nicht auch Musikstücke geben könnte, die man stinken (!) hört." Haarsträubend, schauerlich mutet uns heute dieses Fehlurteil Hanslicks an, das der Komponist übrigens jederzeit auswendig auf sagen konnte, so sehr hatte er sich darüber geärgert, während das Konzert in zwischen längst zu den wenigen ganz großen Meisterwerken der konzertanten Violinliteratur zählt. Das Werk wird durch eine kraftvolle Männlichkeit im Ausdruck, durch eine straffe Rhythmik gekennzeichnet und ist betont musikantisch ohne Hinter gründigkeit, Pathos oder Schwermut. Die Quellen, aus denen Tschaikowski hier unter anderem schöpfte, sind das Volkslied und der Volkstanz seiner Heimat. Betont durchsichtig ist die Instrumentation, die beispielsweise auf Posaunen ver zichtet. Aus der Orchestereinleitung wächst das großartige, tänzerische Haupt thema des stimmungsmäßig einheitlichen ersten’ Satzes (Allegro moderato) heraus, das dem ersten Teil des Konzertes, teils im strahlenden Orchesterklang, teils in Umspielungen der Solovioline, seine faszinierende Wirkung verleiht, wäh rend das zweite, lyrische Thema demgegenüber etwas in den Hintergrund tritt. Auf dem Höhepunkt des Satzes steht eine virtuose Kadenz des Soloinstrumentes, dem das ganze Konzert überhaupt höchst dankbare Aufgaben bietet. Der zweite Satz (Andante) trägt die Überschrift: Canzonetta. Kein Wunder dar um, daß das Hauplthema innigen Liedcharakter besitzt und die Stimmung dieses Satzes weitgehend trägt, ohne dem geschmeidigen Seitenthema größeren Raum zu geben. Unmittelbar daran schließt sich das Finale (Allegro vivacissimo) an, das vom Solisten ein Höchstmaß an geigerischer Virtuosität in Kadenzen, Passa gen, Flageoletts usw. verlangt. Das formale Schema des Satzes ist etwa mit ABABA zu umreißen. Beide Themen haben nationales russisches Profil. Das erste wächst aus der übermütigen Orchestereinleitung heraus, das zweite, tanzartige, wird von Baßquinten begleitet. Unaufhörlich stellt der Komponist die Themen vor, elegant und formgewandt variiert. Strahlend endet der temperamentge ladene Schlußsatz des Konzertes, das zweifellos eine der überragendsten Kom positionen Tschaikowskis ist. Franz Schuberts 7. Sinfonie C-Dur sollte besser seine „Zehnte" genannt werden. Infolge der falschen Zählweise in der Gesamtausgabe der Schubertschen Werke hat man allgemein übersehen, daß zu einer 7. (D) und 8. (E) Sinfonie Skizzen vorliegen (die E-Dur-Sinfonie hat Felix Weingartner voll endet) und folglich die sogenannte „Unvollendete" in h-Moll — übrigens fast zur selben Zeit wie die Beethovensche „Neunte" entstanden — in der Numerie rung eigentlich die Nr. 9 (statt Nr. 8) sein müßte. Der englische Musik-