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Wie über jedes große Kunstwerk lässt sich auch über Beethovens 6. Symphonie unter verschiedenen Aspekten reflektie ren. Hier jedoch weist uns der Autor in die entscheidende Richtung. Klar liegt sein Titel vor; „Pastoral-Symphonie oder Erinnerung an das Landleben“ (nachdem er vorher „Sinfonia caracteristica“ und „Sinfonia pastorella“ erwogen hatte). Dazu kommen die poesievollen Satzüber schriften, die neben den Tempobezeich nungen (samt Metronomangaben) stehen und die hier nicht wiederholt werden müs sen. Demnach wäre das Werk eindeutig als Programm-Musik konzipiert und aus geführt, hätte nicht Beethoven mit der berühmten Unterscheidung den Tren nungsstrich gezogen: „Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei“; dazu eine No tiz aus seinen Skizzen: „Jede Mahlerey, nachdem sie in der Instrumentalmusik zu weit getrieben, verliert“ Auch ohne Be schreibung wird man das Ganze, welches mehr Empfindung als Tongemälde, erken nen. Und es wird, je tiefer man in die Mu sik einzudringen sucht, immer offenbarer, dass sie durch sich selber, durch ihre rei ne Substanz lebt und bewegt, dass die Satzbezeichnungen eine allgemeine Be findlichkeit oder einen Zustand ausspre chen, welche all zu viele Deutungen (und auch Missdeutungen) ausschließen sollen, ganz im Gegensatz etwa zu den symphoni schen Dichtungen von Richard Strauss, in denen wir, ohne jedes Wissen worum es sich handelt, keinen Sinn erkennen könn ten: wer ahnte denn, warum der quiet schende Ton der Es-Klarinette den Tod des armen Till Eulenspiegel markiert, oder dass die merkwürdigen Orchester-Erup tionen im "Don Quixote" das Blöken der Schafe schildern? Die Pastorale, die ja nicht nur inner halb von Beethovens Symphonik, sondern innerhalb der ganzen klassisch-romanti schen Literatur eine besondere Stellung einnimmt, verdanken wir des Komponis ten grenzenloser Verbundenheit mit der Natur in allen ihren Erscheinungsformen und auch in ihrer Transzendenz, die ihm so selbstverständlich war wie Nahrung und Schlaf. Wir wissen, dass sich Beetho ven bei jedem Wetter zu weiten Spazier gängen aufmachte, mit einer Rolle Noten papier und einem dicken Zimmermanns bleistift, um alle Einfälle sofort festhalten zu können. Die Wiener, die ihn hinter sei nem Rücken einen „kraupeten Musikan ten“ nannten, schüttelten die Köpfe über den wunderlichen Mann, der brummend, singend, taktschlagend die Fluren um die Stadt durchstreifte oder versunken vor ei nem Ausblick hockte. Dieses Aufgehen in der Natur ging über physische oder Stimmungsbedürfnisse weit hinaus. Sie entsprang Beethovens profunder Weltanschauung, die - weit entfernt von der allgemeinen Naturschwärmerei der Romantik - das Individuum in die göttli che Schöpfung und den Kosmos einband. Johann Andreas Stumpff, Harfenfabrikant aus London, begleitete Beethoven bei ei nem Spaziergang durch den Wiener Wald und hielt einiges von Beethovens Äuße rungen fest: Hier sitze ich oft stundenlang, und meine Sinne schwelgen in dem Anbli cke der empfangenden und gebärenden Kinder der Natur. Hier vergällt mir kein von Menschenhänden gemachtes Dreck dach die majestätische Sonne, der blaue Himmel ist mein sublimes Dach. Wenn ich am Abend den Himmel staunend betrach te und das Heer der ewig in seinen Gren-