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gelegentlich nicht erfaß- und deut bar. Brahms selbst, gewiß übertrei bend, ließ seinen Verleger wissen, er habe „nie etwas so Trauriges, Molliges geschrieben, die Partitur muß mit Trauerrand erscheinen", nannte sie gar „das neue liebliche Ungeheuer". War ihm das Werk vielleicht selbst nicht geheuer? Wir bemerken sehr bald, daß die vor dergründige Heiterkeit auf unnenn bare Weise gebrochen ist. Wo Licht ist, entsteht auch Schatten. Tie fem Glücksgefühl sind Tränen nicht fremd. Clara hat es empfunden, schon beim Lesen der Partitur. Gustav Mahler, der Komponist des Weltschmerzes, knüpfte später hier an. Doch dessen Gebrochenheit von Glück und Schmerz, Naturbild und Sehnsucht wird allerdings bis zur tragischen Zerrissenheit, bis zum Schrei des Individuums gegen die Scheinheiligkeiten der Welt ge steigert. Brahms hingegen deutet nur an, läßt uns nur erahnen, was ihn bewegt. Er selbst lebte in seiner Natur und atmete dort tief durch, heiter und gelöst mit Geduld und Gelassenheit und einem unbändi gen Humor, einem etwas sarkasti schen allerdings. Vielleicht ist auch etwas stille Schwermut dabei. Norddeutsches Blut? Wir sind ge neigt, solche Musik zu hinterfra gen, zu interpretieren, etwas in sie hineinzudeuten und sollten doch einfach mehr hinhören, jeder in sei ner Weise, jeder auf sein eigenes Herz. Nur so wird verständlich, was uns der Meister wirklich dar bringt. Lassen wir uns doch einfach nur berühren. Musik 1. Satz: Allegro non troppo, 3/4-Takt, D-Dur Aus einer Keimzelle, einem Mini-Motiv (d-cis-d), entwickelt sich das Klanggeschehen, wächst ein ganzer Satz heraus. Weit geschwungene Kantilenen entstehen, auffahrende Marcato-Akkorde. Beredte Empfindung antwortet auf stolze Riesenkraft. Am Satzende nimmt das Horn Abschied, herzbewegend erregt und wunderbar umsponnen. Und alles fängt sich auf in einem freundlichen Pizzicato der Streicher, ergänzt durch Bläsertupfer. 2. Satz: Adagio non troppo, 4/4-, 12/8-Takt, H-Dur Eine herbe, fast unendliche Melodie, nicht ganz leicht faßlich - hervorgegangen aus der wehmütigen, klangvollen Kantilene der Celli beherrscht diesen Satz. Sanfte, manchmal auch gewaltige archaisch-urtümliche Mollsteigerungen entwickeln sich fesselnd, klingen schließlich verhalten, tröstlich aus. 3. Satz: Allegretto grazioso, quasi Andantino/Presto ma non assai, 3/4-, 2/4-Takt, G-Dur Das pastorale Leitmotiv der Sinfonie ist umgewandelt. Eine altväterlich-behäbige Stimmung verbreitet sich bei der von gezupften Violoncelli begleiteten „Harmonie musik“. Unversehens folgen in geschäftiger Verwandlung des Metrums ungarische Anklänge, mischen sich zu wienerischen. In variantenreichem Wechsel wird solches Spiel getrieben. Drei verschiedene Tänze spielt Brahms uns auf: das alte Menuett, den Galopp und schließlich den Geschwindwalzer. 4. Satz: Allegro con spirito, Alla-breve-Takt, D-Dur Im Finale herrscht nun all der erwartete Jubel. Nach einem spannungsvollen, leise huschenden Pianissimo setzt kraftvolle Fröhlichkeit ein, befreites Aussingen, Entspannung, schattenloses, mitreißendes Daseins-Glück. Das ist ein froher Ausklang, ein „Kehraus“ wie aus Haydns Zeit.