Modest Mussorgski im Jahre 1874 Die Entwicklung einer eigenständi gen Kunstmusik im alten Rußland verlief so ganz anders als in den westeuropäischen Ländern. Sie war lange Zeit gehemmt durch einen kirchlich-orthodoxen Herrschaftsan spruch, der keine weltliche Kultur schicht aufkommen lassen wollte. Die später einsetzende Europäisie rung zog ausländische, d. h. west liche Musiker an die Adelshöfe. Dies hatte die natürliche Folge, daß sich außerhalb der russischen Kirchenmusik und einer natürlich gewachsenen Volksmusik keine Talente entwickeln konnten, die nennenswerten Einfluß auf das mu sikalische Leben hätten nehmen können. Es entstanden in der Re gierungszeit der Katharina II. (1762-1796) zwar die Ansätze für eine russische Singspielform, doch wurden auch diese von italie nischen und sehr starken französi schen Elementen überdeckt. Im 1 8. Jahrhundert konzentrierte sich das eigentliche Musikleben meist nur auf St. Petersburg, den Sitz des Zarenhofes und in geringerem Maße auf Moskau. Im Lande gab es an einzelnen Adelshöfen Leib- eigenen-Theater. Aber Ausbil dungsstätten gab es nirgends. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ent wickelte sich, aber auch nur in einigen Zentren, so etwas wie ein städtisches Musikleben. Auch erste Lehranstalten wurden schließlich nach und nach eröffnet. Eine Welle von Nationalgefühl erfaßte das Land nach dem Napoleonischen Krieg. Ideen der französischen Revolution faßten auch in Rußland Fuß. Patriotische Gefühle formten sich in Liedern und Gesängen als Bekenntnis zu eigener Stärke und Größe. Ein politisch-geeigneter Boden war bereitet. Michail Glinka (1804-1857), musikalisch auf einem Petersburger Adelsinstitut von ausländischen Künstlern aus gebildet, wurde später als „Vater der russischen Musik" bezeichnet. Er brachte in seiner Oper „Ein Leben für den Zaren, Iwan Sussa nin" (1836) erstmals das russische Volk auf eine zaristische Hofbühne und gab seinem Vaterland eine, wie er selbst es ausdrückte, „eige ne Tonkunst, ein Werk über das rus sische Volk und seine Helden". Ohne Glinkas wirklich mutigen, immerhin aber sehr umstrittenen Vorstoß wäre vermutlich so bald die Bildung einer nationalrussi schen Kunstmusik gar nicht denk bar gewesen. Aber er gelang und trug rasch Früchte. Einige junge