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wie viele zauberhafte Orchester- oder Kam mermusikwerke, Opern, Messen, Klaviersa chen oder Lieder? Kaum ein Komponist mußte derart viel produzieren, wie es Haydn durch seinen Fürsten aufgetragen war. Und immer - allermeist jedenfalls - wurden es musikalische Kabinettstücke, ernste, heitere, inhaltsschwere oder auch volkstümliche. Haydn schien allen Sätteln gerecht werden zu können, musizierte, daß es eine Lust war und schuf quasi - man könnte glauben, so ganz nebenbei - eine Gattung, die zum Subtilsten gehörte, was die Kammermusik jemals hervorgebracht hatte: das Streichquartett. Ungefähr in der Mitte seines Lebens, Ende der 60er und zu Beginn der 70er Jahre - Haydn hatte als Komponist schon so man cherlei erprobt -, begann er mehr und sogar ernsthafter als vorher zu experimentieren und an seiner musikalischen Ausdrucks weise wesentlich intensiver zu arbeiten. Ein Zeugnis dafür ist die erneute Beschäf tigung mit dem Streichquartett. Nachdem er zehn Jahre lang diese Gattung vernach lässigt hatte, schrieb er 1769/70 eine Serie von sechs Werken op. 9. Der frühere Diver timentoton, das leichte und muntere Musi zieren weicht einer völlig neuen Haltung. Die Musik ist ernster geworden, geht tiefer, erhebt größeren Anspruch. Carl Philipp Emanuel Bach, der zweite Sohn vpn Johann Sebastian, hatte den persönlichen subjekti ven Ausdruck anstatt eines allgemeinen barocken Affekts in die Musik gleichsam eingeführt und ausgebaut. Haydn fühlte sich einer solchen Möglichkeit sehr zugetan, Empfindungen und Leidenschaften auszu drücken, eine „sprechende“ Musik - vor al lem in den langsamen Sätzen - zu kompo nieren. Man merkt es deutlich seinen Schloß Esterhäz, das sich Fürst Nikolaus I. nach dem Muster von Versailles erbauen ließ und wo sich während der gesamten Dienstzeit Haydns bis 1790 ein reges Kulturleben entfalten konnte 30 C.P.E. Bach - zwi schen der barocken Welt seines Vaters und der der Wiener Klassik stehend - sah die Musik als „Spra che der Empfindung“ an und als ihre Auf gabe, die Natur nach zuahmen, dadurch auf die Seele des Men schen zu wirken, um sie in ähnliche Ver fassung zu versetzen, wie dies die natürli chen Vorgänge tun. Quartetten an, denen er gerade jetzt treu blieb und 1771/72 nochmals zwei Serien zu je sechs Werken (op. 17 und 20) schrieb. Und auch in seinem sinfonischen Schaffen dieser Zeit wird ein Wandel in seiner Ton sprache deutlich. Er ließ sich tiefer in seine Seele blicken, wurde persönlicher und scheute sich nicht, musikalische „Abgründe“ aufzutun. Sein Stil wurde leidenschaftli cher, subjektiver, erfüllt von dem Ringen nach Wahrhaftigkeit und Stärke des Aus drucks. Das inhaltliche Moment tritt in den Vordergrund. Auf die Erfindung legte er mehr Wert, weniger auf Aus- und Umdeutung der Gedanken in der sogenannten Durch führung. Da Haydn nachweislich keine all zu großen literarischen Ambitionen hatte, mußten die Denkweisen des „Sturm und Drang“ wohl in der Luft liegen. Doch bei all dem soll nicht vergessen sein, daß Haydn ein Mann des „Populären“ war und es im mer auch bleiben wollte, ein Komponist, der überraschende Effekte liebte, der ver schmitzt zu blinzeln verstand, sowohl bäue risch derb auftrumpfen als auch mit ein gängig-liedhaften Themen singen konnte. In dieser Zeit waren verschiedene Opern und Singspiele entstanden, in denen der opera-buffa-Stil deutlich zum Tragen kam. Mit der ganzen Zähigkeit seiner bäuerlich handwerklichen Natur, die am ursprünglich Erworbenen festhält, wollte Haydn nichts ablegen, was er bereits erworben hatte. Und wo er vorwärtsschreiten wollte, neues entdeckte und einfügte, gab er doch nichts völlig auf, von dem er seinen Ausgang nahm. Und als es ihm einmal in einer seiner Partituren selbst zu arg wurde, er glaubte, sehr kompliziert zu werden, strich er kurzer hand einige Takt durch und schrieb daneben: „Diese war vor gar zu gelehrte Ohren.“ 31