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“Glotz nicht so romantisch!” Dass Bert Brecht diesen oft zitierten Ausspruch ge tätigt hat, ist schon einige Jahrzehnte her. Und dennoch hatte er Folgen bis heute. Kaum einer traut sich mehr, Gefühle zu offenbaren, gibt offen sein Schwelgen in der Vergangenheit und in fernen Welten zu. Man muss gut funktionieren, soll keine Emotionen zeigen und nur vorausblicken. Auch in der Musik herrscht nicht selten ein zwar perfekter, aber oft auch seelen loser, allzu technischer Ton vor. Nur den großen Alten, die meisten heute schon Legende, sieht man es nach, wenn sie sich in Gefühl und Sentiment verlieren, längst vergilbte Virtuosenstücke auf ihr Pro gramm setzen, den Rattenfänger, aber auch den Sensibilissimus spielen. Dabei offen barten sie doch alle eine unmittelbare Lust und Freude am Spiel und an den eigenen Fähigkeiten, die so manchen Virtuosen schmerzlich abzugehen scheint. Einer, der sich von solchen Trends und Moden reichlich unbeeindruckt gezeigt hat, der sich selbst über die langen Jahre seiner Pianistenkarriere hinweg treu ge blieben und vor allem dem romantischen Repertoire verpflichtet geblieben ist, ist Bruno Leonardo Gelber. Bei ihm hören sich auch die klassisch-klaren Sonaten ei nes Domenico Scarlatti wie viel später geschrieben an. Das ist das Wesen der In terpretation: Der geschriebene Notentext bildet immer nur die halbe Wahrheit, die andere muss erst der Interpret liefern. Wenn Bruno Leonardo Gelber einen Klavierabend gibt, dann ist das immer auch eine Zeitreise. Und vor allem eine Hin wendung zum Fühlen, zum Erspüren des sen, was da auf dem Podium passiert. Was sich nicht unbedingt in “richtigen” Noten messen lässt, viel eher im Vermögen, die Architektur eines Stückes zu erfassen, ei nen Bogen zu spannen, ihn zu kolorieren und auszuschmücken, zu phrasieren, das richtige Timing und Tempo zu finden, so dass die Musik anspricht, berührt, etwas auslöst - und nicht nur ein Haufen von Noten vorexerziert wird. Wenn Bruno Leonardo Gelber ein Virtuosenstück auf seine Programme setzt, dann soll auch dieses als Schmuckstück funkeln und nicht nur kalt glitzern. Winzigste Verzierungen werden dabei immer auch als Hauptsache begriffen, virtuose Exzesse strahlen nicht nur lupenrein, sondern verwandeln sich möglichst durch dynamischen Feinschliff in verführerische Ausdrucksgesten. Ge nauso vermag es Bruno Leonardo Gelber, weich und innig zu klingen, ohne eine Melodie ins Verzärtelte abgleiten zu las sen, ihr die Kraft zu nehmen. Und auch Temperamentsausbrüchen, harten Wen dungen, schroffen Akzenten ist er mit ebensolcher Vehemenz gewachsen, mit der er im umgekehrten Fall feinsten harmoni schen Verästelungen nachzuspüren pflegt. Ein Universalist - durchaus, aber in sei nem ursprünglichen, romantischen Sinne. So gehört die Liebe des Bruno Leonardo Gelber der Musik zwischen Bach und Brahms, das gibt er ganz offen zu, und Beethoven ist in diesem Reich König, Schubert eher eine Rand erscheinung, dem nähert er sich nur zögerlich. Er will ihn sich aufsparen, er soll „der Mozart seiner späten Jahre” wer den. Ebenso sehr wie das Solorezital liebt er die Kunst des Konzertierens mit Orche ster, dem er durchaus kämpferische Aspekte abgewinnen kann. Ein gut gelun-