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ZUR EINFÜHRUNG Symphonie pathetique - Mort pathetique? In Edward Gardens Biografie Peter Tschaikowskis, 1986 in deutscher Spra che erschienen, heißt es kurz und bündig: „Inzwischen läßt sich nachweisen, daß Tschaikowski Selbstmord begangen hat." Stoßen wir uns hier nicht am Terminus Selbstmord, der in sich schon eine morali sche Verurteilung zum Ausdruck bringt - er erscheint quasi als Sonderform unter dem Rubrum Mord - und außer acht läßt, daß diese Todesart zumindest im 20 . Jahr- hundert mancherlei Um- und Neu bewertung erfahren hat. Zugegeben, der Begriff Freitod ist nur um weniges besser, denn so frei, wie das Wort vorgaukelt, wird dieser Schritt kaum je vollzogen; immer ist doch etwas im Spiel, das frei zu unfrei macht. Sollte es ein verräterisches Symptom sein, daß es im Deutschen keinen ausrei chend neutralen Begriff gibt, wir stattdes- sen auf das Wort Suizid zurückgreifen müssen, das die Wissenschaften verwen den und das auch in einigen nicht deutschen Sprachen verankert ist ? Gardens Kronzeugin ist die russische Mu sikwissenschaftlerin Alexandra Orlowa, die, in die USA emigriert, die These von Tschaikowkis Suizid zunächst in russischer Sprache in einer Emigrantenzeitschrift, 1981 dann in der Zeitschrift "Music & Leiters' 1 auf Englisch veröffentlichte. Ihre Beweisführung war derart überzeugend, daß renommierte Musiklexika vor allem aus dem anglophonen Raum (Grove, Ox ford) seither die Behauptung mit unter schiedlicher Betonung aufgegriffen haben, als unumstößliche Tatsache und Ergebnis jüngster Forschung oder - etwas zurück haltender - wenigstens als Möglichkeit, die nicht a priori ausgeschlossen werden kann. Als Orlowa mit ihrer Veröffentlichung für einigen Aufruhr sorgte, war in der Sowjet union an Perestroika noch nicht zu den ken, und da das Land von westlicher Lite ratur kaum erreicht wurde, nahm man den Artikel gezwungenermaßen praktisch nicht zur Kenntnis. Lediglich einige Fachleute be kamen ihn in die Hand. Das heißt nun frei lich nicht, daß seine zentralen Aussagen ebenso unbekannt gewesen wären. Man mag es, wie einige Musikologen es tun, als Gerücht, als Mythos, als Legende oder gar als Folklore bezeichnen; die Behaup tung, Tschaikowski wäre von eigener Hand durch Gift zu Tode gekommen, hält sich mit großer Hartnäckigkeit seit jenem 25. Oktober (6.November) 1893. Orlowas detaillierte Beweisführung kann hier nicht im einzelnen nachgezeichnet oder kritisch beleuchtet werden. Es genügt, wenn wir uns auf den eigentlichen Hinter grund ihrer Suizidtheorie beziehen. Da bei stoßen wir auf einen Fürsten Stenbok- Fermor (und auf die Tatsache, daß Orlowa trotz aller Genauigkeit, die sie sonst an den Tag legt, keine Einzelheiten, nicht ein mal den Vornamen dieses baltischen Ad ligen mitteilt). Stenbok-Fermor habe an den Zaren Alexander III. einen Be schwerdebriefgeschrieben, in dem er sich darüber beklagt, daß der Komponist ei nen zu engen Kontakt zu dem jungen Neffen des Fürsten suche. In der Folge trat ein Ehrenrat der Petersburger juristischen Schule zusammen, um sich mit dem Brief zu beschäftigen. Tschaikowski war selbst in den Jahren 1850 bis 1859 Schüler die ses Instituts gewesen, und wäre es auf grund des Stenbokschen Briefs zu einem öffentlichen Eklat gekommen, hätte die Schule nicht vermeiden können, in diesen Zusammenhang mit hineingezogen zu werden. Die „Ehre der Schuluniform" muß te unbefleckt bleiben. Dieser Ehrenrat muß nach Orlowa zwei bis drei Tage vor Tschaikowskis Tod stattgefunden und mit dem Ergebnis geendet haben, daß sich Tschaikowski zum Suizid verpflichtete. Orlowa geht so weit, von einem Todesur teil und vom Mord an einem großen Kom ponisten zu sprechen. Zu enger Kontakt Tschaikowskis zum Nef fen Stenbok-Fermors ... auch die sowjeti sche Musikwissenschaft kam an der Tat sache nicht vorüber, daß Pjotr lljitsch Tschaikowski (wie im übrigen auch sein Bruder und Mitarbeiter Modest) homose xuell war. Das bedeutete aber nicht, daß diese weithin bekannte Tatsache auch in den Kanon der veröffentlichten wissen schaftlichen Erkenntnisse aufgenommen worden wäre. Im Gegenteil, die offizielle