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ren derart ungewöhnliche Taktarten noch wenig verbreitet. Die Heiterkeit, die die ser Satz ausstrahlt, ist allerdings nur vor dergründig. Im Untergrund lauern Gefah ren und Ängste, die sich in der Mitte des Satzes unüberhörbar zu Wort melden. Im dritten Satz kämpfen Charaktere eines Scherzos und eines Marschs gegeneinan der. Das Scherzo allein ist nicht von jener Heiterkeit, die die Gattungsbezeichnung nahelegt, so daß es auch dem Marsch mit seinen punktierten Rhythmen nicht stand halten kann. Daß der Marsch plötzlich in einer strahlend-triumphalen Version in D- Dur erklingt, darf nicht so interpretiert wer den, als ob sich die Bedrohung verzogen hätte - es ist ein Aufschub, eine Episode, die man nicht hören kann, ohne in jedem Moment auf das Schlimmste vorbereitet zu sein. Das Finale widerspricht ebenfalls dem Her kömmlichen, denn es ist in einem langsa men Zeitmaß (adagio lamentoso) gehal ten. Thematisch wird der Bogen zum er sten Satz geknüpft; Verzweiflung wird im mer mehr zum bestimmenden Gestus. Auch ein zeitweiliges Aufbegehren kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Ende - der Tod - unausweichlich ist. Dunkle Streicherklänge führen unaus weichlich zum Zusammenbruch, zur Er gebung in das Unvermeidliche. Der Tod bleibt Sieger. Es scheint verlockend, in diese Sinfonie Tschaikowskis Abschied vom Leben hin einzudeuten (er starb eine Woche nach der Uraufführung). Das aber wäre mit Si cherheit eine Uberinterpretation. Weit nä her liegt die Deutung, daß Tschaikowski die Summe eines Lebens zieht, das trotz äußerlichen Ruhms nie aus dem Zwang zur Kapitulation heraustreten konnte. Die"Symphonie pathetique" ist ein Abbild tiefinnerlicher Zerstörung eines Menschen, der sich zeit seines Lebens nicht voll ver wirklichen konnte, eines Menschen, der an den Zwängen, Restriktionen und Vor urteilen seiner Zeit zerbrechen mußte. Es ist die Sinfonie des Untergangs einer In nenwelt, der psychischen Demontage: Stück um Stück, unaufhaltsam. Peter Zacher 11 Vor zwanzig Jahren habe ich einfach drauflosgearbeitet und alles ging gut. Jetzt aber bin ich feig und habe kein Vertrauen. Heute saß ich den ganzen Tag über zwei Seiten; sie gelingen nicht so, wie ich gerne möchte." An seinen Bruder Modest, 22. Juli 1893 "Die Sinfonie, die ich Dir zu widmen be absichtigte, was ich aber noch überle gen muß, kommt gut voran. Mit ihrem Inhalt bin ich sehr zufrieden - unzufrie den oder besser gesagt nicht ganz zu frieden bin ich mit der Instrumentierung. . . Ich werde mich gar nicht wundern, wenn man über diese Sinfonie loszieht oder sie gering einschäfzt - es wäre ja nicht das erste Mal. In meinen Augen ist sie aber bestimmt das beste, das auf richtigste meiner Werke. Ich liebe sie, wie ich noch keines meiner musikali schen Kinder je geliebt habe." An seinen Neffen Wladimir Dawidow, 3. August 1 893 Nachdem Tschaikowski die Orchester partitur und überdies einen vierhändi gen Klavierauszug seiner sechsten Sinfo nie fertiggestellt hatte: "Mein Ehrenwort, noch nie in meinem Leben war ich so zufrieden mit mir; so stolz, so glücklich in dem Bewußtsein, eine wirklich gute Sache vollbracht zu haben." An den Verleger Jurgenson, 12. August 1893 Tschaikowski mit seinem Neffen Wladimir Dawidow (1892) Aus Briefen Tschaikowskis "Stolz und zufrieden im Bewußtsein einer guten Tat"