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Der Anlage des Textes folgend sind die 24 einzelnen Nummern in vier Kantatenartige Hauptteile unterteilt. Sie ermöglichten die Aufführung von Einzelstücken schon zu Bachs Zeiten. Fast ein Jahrhundert sollte denn auch vergehen, bis die h-Moll-Messe als Gesamt werk erklang. Die erste komplette Aufführung veranstaltete 1835 die Berliner Singakade mie. Das markanteste Kompositionsmittel der Messe liegt bei dem Verfasser der „Kunst der Fuge“ auf der Hand - Bach verwendet in fast jedem Satz seine polyphone Lieblingsform, wenn nicht durchgängig, dann zumindest abschnittsweise. So ist das Werk ein Beispiel für die meisterhafte Handhabung aller Spielarten dieser kontrapunktischen Kompositions form, eben noch für jubelnden Lobpreis passend, im nächsten Satz schon verinnerlicht und ruhig umgesetzt. So bildet beispielsweise eine fünfstimmige Fuge das erste Kyrie. Mit weihnachtlicher Pastoralstimmung versah Bach die Stimmführung im „et in terra pax“ des Gloria, dessen Thema, verlängert durch langhinrollende Kolorationen, zum Fugenthema wird. Der Kanon, strengstes Fugenprinzip überhaupt, findet in zwei Duetten seine Anwendung. Die kanonische Verschränkung von Solosopran und -tenor im „Domine Deus“ unter streicht die Textaussage der Einheit von Vater und Sohn. Die gleiche Einheit ist der ge dankliche Hintergrund des Duettes „Et in unum Deum“; hier noch stärker versinnbild licht durch eine einzige, von Solosopran und -alt als Kanon im Abstand einer Viertelnote gesungenen Melodie. Ein zweites Stilmittel stellt sich daneben ganz anders, für den Protestanten Bach gera dezu unpassend dar - die Gregorianik. Zur Themenbildung wird mehrfach auf diese äl testen Melodien der katholischen Liturgie zurückgegriffen, sie zeugen von einer umfas senden musikalischen Bildung des Thomas kantor. Bach, der im lutherischen Glauben Erzogene und im protestantischen Kirchen dienst Lebende, legt damit ein musikalisches Bekenntnis zur römischen Kirche ab. Und dies nicht etwa in flüchtigen Nebensätzen, sondern in vielfacher Wiederholung und Ab handlung. Im ersten Credo zum Beispiel hat Bach einen fünfstimmigen Chorsatz über gleichmäßig auf- und abwärtsschreitenden Bässen verarbeitet, dessen Kopfthema auf eine gregorianische Intonation zurückzu führen ist. Im düsteren fis-Moll erklingt das „Confiteor“, dessen alte gregorianische Wei se versteckt als Kanon von Baß und Alt in den Satz eingeflochten wurde. Zur Aufführungspraxis der h-Moll-Messe ist zu erwähnen, daß Bach oft zwischen den Chor- und Solostimmen keinen grundlegenden Unterschied macht. Besonders fähige Chorsänger kann er sich durchaus als Solisten vorstellen. Hier liegt ein wesentlicher Un terschied zwischen Oper und Oratorium bzw. Messe: Während in der Oper jede Rolle ei- („Kantor dirigiert eine Gruppe von Musikschülern", Original im Archiv für Kunst und Geschichte)