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In den Mittelstimmen - sie haben bei Brahms immer eigenes Profil und Gewicht - beginnt dann wieder die unruhvolle Entwicklung. Mit erbitterter Wucht setzt die Durchführung ein, deren ständig neu aufbegehrende Ansätze stets in Ermattung enden. In der Coda scheint alles aufgegeben - doch da erklingen, innerhalb der beibehaltenen chromatischen Gestalt, mildere, tröstende Töne; wenn nicht Hoffnung, so klingt mit den letzten C-Dur-Tönen doch Trost auf. Dieser Trostgedanke bestimmt das Hauptthema des zweiten Satzes. Allerdings kommt auch dieses nicht ohne den chromatischen Tonschritt aus, obwohl die von Drei klangsmelodik beherrschte Fortspinnung des Kopfthemas ihn zu überwinden sucht. Noch deutlicher wird der elegisch klagende Zug im Seitenthema (cis-Moll), das sich die Holzbläser gleichermaßen zusingen. Von besonderer klanglicher Wirkung ist der Nachsatz des ersten Themas, den Oboe, Horn und Solo-Violine im Unisono zur zart wogenden Begleitung der Violoncelli vortragen. Der ganze Satz ist von einer seltenen Konsequenz der thematischen Gestaltung. Der dritte Satz ist in ein für Brahms typisches Helldunkel gekleidet; gedämpfte Heiterkeit verkündet Hoffnung. Die auf zehn Takte erweiterte Achttaktigkeit des Beginns mit seinem wiegend-humorvollen Abgesang ist von tiefer Wirkung. In einem zweiten Motiv geistert noch immer die Chroma- tik des Sinfonieanfangs herum. Das H-Dur-Trio ist in seinem reizvollen Gegeneinander von Bläsern und Streichern dage gen voll feinsinnigen Humors. Es vermag sich am Schluß auch zu kraftvollem Fortissimo aufzuschwingen, dem besinnliches as-Moll, wieder in den Beginn hineingleitend, antwortet. Wie üblich gestaltet Brahms auch hier die Coda besonders reizvoll. Der ganze Satz gibt ein prächtiges Beispiel für den verhaltenen Humor, die Güte und Herzlichkeit der Brahmsschen Tonsprache, mit der der Komponist Hoffnung, Licht und Trost spenden will. Der letzte Satz ist wohl einer der gewaltigsten Sinfoniesätze seit Beethoven. Er besteht aus drei Teilen. Das einleitende Adagio bringt eine große Vielfalt musikalischer Gestalten, die nicht getrennt voneinander aufzufassen sind: zunächst ein mit dem chromatischen Gang gekoppeltes schmerzliches Motiv, dann zum Fortissimo gesteigertes synkompisches Drän gen (pizziakto), verzweifelte Ausrufe in den hohen Bläsern, von wirbelnden Streicherskalen getragen, abgerissene Aufschreie. All das mündet, durch einen Paukenwirbel eingeleitet, in den zweiten Teil (Piu andante, C-Dur), der beherrscht wird von einem von sordinierten Streichern umspielten Hornthema, dessen Herkunft von Weber (,,Freischütz“-Ouvertüre) und Schubert (Anfang der großen C-Dur-Sinfonie) evident ist. Dieses Thema wird dann, lediglich einmal von einem mahnenden Posaunensatz unterbrochen,kanonisch verarbeitet. Danach beginnt der dritte Teil, der eine rüstige Marschweise zum Grundthema hat. Für die einheitliche Faktur des ganzen Satzes ist es bezeichnend, daß der Anfang dieser Marschweise eine deutliche Umformung des Adagiomotivs ist (die Fortsetzung knüpft bewußt an Beethovens Freudenhymne an). Das Hornthema des Andanteteils kehrt noch öfter - so vor dem zweiten Thema und in der Durchführung - wieder. Auch die Themen des einleitenden Adagios tauchen wieder auf, in ähnlicher Weise verwandelt, sie erhalten akti ves Profil. Die innigen Wendungen des zweiten Themas (G-Dur) samt seinen Nachfolgern entwickeln sich über dem Baßmotiv des Anfangs; imposante Einheitlichkeit entsteht vor allem im dritten Thema, das den aktivsten Charakter hat und sich in manchen Umformun gen auch an der Durchführung beteiligt. Diese ist an den Anfang der Reprise verlegt, dadurch engstens mit der musikalischen Themensubstanz verbunden. Hier erscheinen sämtliche Themen des Satzes in kräftiger Steigerung, um in ein Piu allegro zu münden, das, zunächst von rhythmischen Impulsen getragen, jenes Thema, welches in der Einleitung von den Posaunen vorgetragen wurde, sowie das erregte dritte Thema zu hymnischer Wirkung bringt und auch die schmerzvoll chromatische Gestalt durch energische Leittonspannung aktiviert. So mutet der Finalsatz insgesamt wie eine Umwandlung des ersten Satzes ins Freudig-Optimistische an. Konzertbuch