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entscheidenden Zügen den Charakter der 9. Sinfonie, die im Grunde bereits Mahlers „Zehnte" ist - hatte er doch auch das zuvor komponierte „Lied von der Erde", eigentlich eine großangelegte sinfonische Kantate, ausdrücklich als „Sinfonie" bezeichnet und wollte es als sol che gewertet wissen und hatte ihn wohl nur eine gewisse abergläubische Angst vor der „Neun ten" (über die auch Beethoven und Bruckner nicht hinausgekommen waren) davor zurückge halten, diese Liedersinfonie direkt in den Kreis seiner großen sinfonischen Schöpfungen einzu beziehen. Stilistisch führt die 9. Sinfonie, mit rein orchestra len Mitteln gestaltet, in vielem die Linie der Mah- lerschen Instrumental-Sinfonien Nr. 5 bis 7 fort; gleichzeitig aber macht sich eine starke Verin nerlichung des Ausdrucks, eine Vergeistigung der Form bemerkbar, die bezeichnend für Mah lers Spätstil sind. Der äußere Aufwand ist gerin- Gustav Mahler. Büste von Auguste Rodin. ger, die instrumentalen Mittel werden maßvoller, zurückhaltender eingesetzt als in früheren Wer ken, stellenweise wird eine für Mahler geradezu erstaunliche, fast „kammersinfonische" Durch sichtigkeit erreicht. In stärkstem Maße wird die Polyphonie oberstes Prinzip, wobei es durch eine höchst eigenwillige und kühne, klangliche Härten keineswegs vermeidende lineare Stimm führung teilweise zu ganz neuartigen polytona len, ja mitunter atonalen Akkordbildungen und Zusammenklängen kommt. Häufig ist auf die (durch die Vorwegnahme derartiger stilistischer Momente bedingte) große Bedeutung des Wer kes für die Vertreter der „musikalischen Moder ne" hingewiesen worden, und es ist bezeich nend, daß Arnold Schönberg und Alban Berg Worte höchster Bewunderung gerade für diese Komposition gefunden haben. Ungewöhnlich im herkömmlichen Sinne ist ferner in der 9. Sinfonie die Satzfolge: im Gegensatz zur traditionellen Aufeinanderfolge der Sinfonie-Sätze umrahmen hier zwei langsame Außensätze zwei schnelle Mittelsätze. „Der erste Satz ist das Allerherrlichste, was Mah ler geschrieben hat. Es ist der Ausdruck einer unerhörten Liebe zu dieser Erde, die Sehnsucht, im Frieden auf ihr zu leben, sie, die Natur, noch auszugenießen bis in ihre tiefsten Tiefen - bevor der Tod kommt. Denn er kommt unaufhaltsam. Dieser ganze Satz ist auf Todesahnung gestellt", schrieb Alban Berg in einem Briefe vom Jahre 1912 über den ersten Satz des Werkes, den auch Bruno Walter als „eine tragisch erschüt ternde, edle Paraphrase des Abschiedgefühls" charakterisierte. Das in freier Sonatenform ge arbeitete Andante, dessen elegisches, anfangs kaum als thematisches Gebilde zu erkennendes Hauptthema sind nach einer kurzen Einleitung in Horn und zweiten Violinen entwickelt, bringt in seinem Verlaufe einen Wechsel von zarten, gelöst-transparenten Episoden voller ergreifend verinnerlichter Töne und Teilen leidenschaftli chen, trotzigen Aufbäumens voller gewaltiger Klangentladungen und orchestraler Steigerun gen. Auf dem Höhepunkt des musikalischen Ge schehens erklingt „wie ein schwerer Kondukt" ein Trauermarsch, anwachsend zur erschüttern den Totenklage. Leise, gleichsam verschwe- bend, klingt der Satz schließlich aus.