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Gedanken zu „Peer Gynt" Edvard Griegs „Peer Gynt"-Musik, oftmals in Unterhaltungsprogrammen mit einzelnen Stücken vertreten, verdient weit mehr ernsthaftere Beach tung als man ihr gemeinhin entgegenbringt. Natürlich ist sie berühmt geworden durch ihre eingängige Melodik, aber fast unbekannt sind die dramatische Kraft, auch die vielfach hinter gründig dämonischen Töne, besonders im Reich der Trolle, und ihre Fähigkeit, die beiden her ausragenden symbolischen Frauengestalten - die „tief und ernst liebende" Solvejg und auf der anderen Seite die verführerische Anitra - musi kalisch zu charakterisieren. Unsere Fassung, die einen Großteil der Schau spielmusik enthält, entstand in der Erkenntnis, daß erst im Zusammenhang mit Ibsens dramati scher Dichtung die Meisterschaft Edvard Griegs voll zur Geltung kommen kann. So bekannte Stücke wie „Solvejgs Lied", „Anitras Tanz" oder die „Morgenstimmung" erhalten dadurch neue Dimensionen. Kurt Masur Die Werkgeschichte des „Peer Gynt" 1 864 hatte der noch immer auf Anerkennung als Dichter hoffende 36jährige Henrik Ibsen ein bescheidenes Dichterstipendium zugesprochen bekommen, das es ihm ermöglichte, noch im gleichen Jahr eine Reise ins Ausland anzutreten. „Heraus aus dieser Schweinerei, aus den ge drückten, kleinlichen Verhältnissen!", erklärte der Norweger diese Entscheidung. Obwohl Ibsen bis 1891 in. Deutschland lebte, war er doch mit seinen Gedanken und Empfin dungen stets in der Heimat, um sein „Volk zu wecken und es zu lehren, groß zu denken". In jenen Auslandsjahren arbeitete Ibsen auch an seinem 1 867 fertiggestellten „Peer Gynt". Diesem „dramatischen Gedicht" liegt ein norwe gisches Volksmärchen über den im 17. Jahrhun dert historisch nachweisbaren Bauern und Jäger Peer Gynt zugrunde. In dieser Gestalt zeigt Ibsen vorwiegend die negativen Eigenschaften seiner norwegischen Landsleute als Warnung, Mahnung und Aufrüttelung. „Peer, der Traum und Wirklichkeit nicht trennen kann, der stets ein Halber bleibt und nie ein Ganzer wird, der arm auszieht, um ein Kaiser reich zu erobern und noch ärmer, an Leib und Seele gebrochen, zurückkehrt, dieser romanti sche Träumer und Phantast, der das Leben nicht meistert, der sich korrumpieren läßt und egoi stisch dem ,Goldenen Kalb' nachjagt, der im Le ben und in der Liebe zu der schönen, empfin dungsstarken Solvejg - der Verkörperung des guten Norwegertums - versagt: Peer, das seid ihr, die ihr euch mit Branntwein oder mit Lügen tröstet!" Verbitterung spricht aus jenen Worten des Dichters, gerichtet an seine Zeitgenossen. Um die Handlung des „Peer Gynt" noch emotio naler wirken lassen zu können, war Ibsen an ei ner Vertonung des Stoffes interessiert. Deshalb bat er seinen Landsmann Edvard Grieg um eine Bühnenmusik zu diesem Theaterstück. In einem Brief (geschrieben 1874 aus Dresden, wo er derzeit lebte) teilte Ibsen dem Komponisten ge- nauestens mit, wie und zu welchen Szenen eine musikalische Untermalung gedacht sei. Noch im gleichen Jahr begann Grieg in Sandvi- ken bei Bergen mit dem Komponieren. Die Or chesterpartitur entstand ein halbes Jahr später im dänischen Fredensborg. Am 24. Februar 1876 wurde „Peer Gynt" im „Norwegischen Theater" zu Kristiania (von 1 857 bis 1 864 war Ibsen Theaterdirektor dieses Hauses) zum ersten Mal mit Griegs Bühnenmusik aufgeführt. Dirigent war Johan Hennum. Das Publikum war so begeistert, daß noch 36 weitere Aufführungen auf dem Spielplan erschei nen mußten. Schon kurze Zeit später hatten das Stück auch zahlreiche andere norwegische Büh nen in ihr Repertoire aufgenommen. Nur außer halb des Landes konnte sich „Peer Gynt" nicht behaupten. Noch zwei Jahre vor seinem Tod äußerte sich Grieg über diesen Umstand: „Es ist sehr schade, daß das lokale Kolorit und der vielfach philosophische Dialog für die Popu-