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EINFÜHRUNG Ludwig van Beethoven erzielte mit seiner 9. Symphonie d-Moll, op. 125, die am 7. Mai 1824 in Wien zum ersten Male erklang, trotz der sehr unvollkommenen Wiedergabe einen großen Publikumserfolg, während die Fachwelt lange zwischen begeisterter Zustimmung und völliger Ablehnung schwankte. Stark kritisiert wurde vor allem der letzte Satz, in dem der Komponist den Stilgesetzen seiner Zeit zuwider Dichterworte und menschliche Stimmen verwendete. Allein Beetho ven konnte nicht anders, denn je länger er an dem Werk arbeitete, desto mehr gewann in ihm der Gedanke die Oberhand, daß kein Orchester seine Empfindungen mit gleicher Deutlichkeit auszudrücken ver möchte wie ein Chor in Verbindung mit den hymnischen Worten Schil lers. So krönte er denn im Jahre 1823 seine „Neunte“ mit einem Chor satz, in dem er — und dies sei hier nicht verschwiegen — die menschli che Stimme über weite Strecken hin allerdings auch wie ein Instrument behandelt. Das ändert selbstverständlich an der Tatsache, daß wir die „Neunte“ als Beethovens erschütterndste symphonische Kunstäuße rung verehren, genauso wenig wie der Umstand, daß Beethoven später selbst einmal eine Umarbeitungdes Finales ernsthaft erwogen hat. Das bei völliger Taubheit nur tief innerlich erlauschte und in genialer Mei sterschaft konzipierte Werk stellt in jeder Hinsicht eine ans Wunder bare grenzende Höchstleistung dar, obwohl oder gerade weil darin rein gefühlsmäßig — als symphonisches Erlebnis — alles sonnenklar und einheitlich wirkt. Der erste Satz entwickelt im dramatischen Kontrast zwischen lastend dunklen und tröstlich aufrichtenden Gedanken eine Vielfalt der Erscheinungen, die den wechselvollen Kampf der Menschenseele mit den dämonischen Mächten in höchster Deutlichkeit nacherleben läßt. Der zweite Satz ist ein großartig angelegtes Scherzo, das ebenso spuk artig und dämonisch wie das der 5. Symphonie wirkt, dabei aber noch um einiges phantastischer und großartiger ist. Der dritte Satz gewährt mit seinem Frieden atmenden Hauptthema einen Blick in andere Wel ten. Noch findet der Traum aber nicht seine Erfüllung: Trompeten und Hörner erinnern an die Wirklichkeit und nur die Vision himmlischer Glückseligkeit zittert nach. Das Finale bringt die Wiederkehr zur Wirklichkeit und so hebt denn erneut ein faustisches Ringen an, wie man es sich gigantischer nicht vorstellen kann. Da gebietet jedoch der Mensch den Gewalten der Finsternis Einhalt: „O Freunde, nicht diese Töne! Sondern laßt uns angenehmere anstimmen und freudenvollere!“ Damit beginnt erst das eigentliche Finale: eine Variationsreihe auf das Freudenthema, der als Text einzelne Strophen von Schillers „Ode an die Freude“ zugrunde liegen. Beethoven hat aus diesen Strophen mehr oder minder ausführliche Szenen gemacht, zwischen denen als Refrain immer wieder die Anfangszeilen des Gedichtes auftreten: „Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium. Wir betreten feuertrun ken, Himmlische, dein Heiligtum. Deine Zauber binden wieder, was die Mode streng geteilt: alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt“. Gestaltet ist der Satz in mehreren freien Variationen, als deren großartigste Eingebungen „und der Cherub steht vor Gott“ sowie das Tenorsolo bezeichnet werden dürfen. Nach diesem Tenor solo gewinnt endgültig das religiöse Element die Oberhand: der Män nerchor setzt breit mit „Seid umschlungen Millionen“ ein, worauf es nach einigen Takten zu einem Fortissimo aller Mitwirkenden kommt, das plötzlich in ergreifender Weise dem leisen „Brüder! Überm Ster nenzelt muß ein lieber Vater wohnen“ Platz macht. Das Allegro ener- gico faßt die Themen von „Seid umschlungen“ und „Freude, schöner Götterfunken“ zu einer großartigen Doppelfuge zusammen, in wel cher der Satz seinen überwältigenden Höhepunkt findet. Dr. Heinz Klier