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1. Satz (Träumereien, Leidenschaften): „Ich nehme an, daß ein Künstler von lebhafter Einbildungskraft in einem Seelenzustand, den ein berühmter Schriftsteller ,das Wogen der Leidenschaften' nennt, zum erstenmal die Frau erblickt, die das Ideal an Schönheit und Reiz verkörpert, nach dem sich sein Herz seit langem sehnt. Er verliebt sich hoffnungslos. Durch einen seltsamen Zufall erscheint das Bild vor seiner Seele in Begleitung eines musikalischen Gedankens, in dem er den selben graziösen vornehmen Charakter findet wie bei dem geliebten Wesen, das ihm vorschwebt. Diese doppelte fixe Idee verfolgt ihn beständig: das ist der Grund, weshalb die Hauptmelodie des ersten Allegros in allen Sätzen der Sinfonie beständig wieder auftaucht. Nach tausend Anstrengungen schöpft er Hoffnung; er glaubt, daß er geliebt wird. (Leidenschaft und Schwermut, Melan cholie, Schmerz, Eifersucht, Freude und Herzensangst bilden also den Inhalt des ersten Satzes.) 2. Satz (Ein Ball): Der Künstler nimmt an einem Balle teil, aber der Festtrubel vermag ihn nicht zu zerstreuen. Wieder quält ihn die fixe Idee, und während eines glänzenden Walzers läßt die Melodie sein Herz erbeben. 3. Satz (Szene auf dem Lande): Als er eines Tages zwischen den Feldern wandelt, hört er in der Ferne zwei Hirten einen Kuhreigen blasen (Dialog zwischen Englischhorn und Oboe); bei diesem pastoralen Duett versinkt er in eine wundervolle Träumerei. Zwischen den Motiven des Adagios taucht die Melodie auf. (Bange Vorahnungen bringt dieses Adagio zum Ausdruck.) 4. Satz (Der Gang zum Richtplatz): Der Künstler hat die Gewißheit erlangt, daß seine Liebe verschmäht wird. In einem Anfall von Verzweiflung vergiftet er sich mit Opium: aber anstatt sich damit zu töten, hat er in der Narkose eine schreckliche Vision. Er glaubt, die geliebte Frau getötet zu haben, sieht sich zum Tode verdammt und wohnt seiner eigenen Hinrichtung bei. Der Marsch zum Richtplatz, ungeheurer Aufzug von Henkern, Soldaten und Volk. Schließlich erscheint die Melodie wie ein letzter Liebesgedanke, den der verhängnisvolle Streich des Henkers abbricht (harter Schlag des vollen Orchesters; realistisch malen Pauken und Trommeln die Schrecken der Szene). 5. Satz (Traum eines Hexensabbats): Der Künstler sieht sich umringt von einer zahllosen Menge widerlicher Wesen und Teufel, die zusammengekommen sind, um die Sabbat nacht zu feiern. Sie rufen einander von ferne. Endlich taucht die Melodie auf, die bisher nur lieblich erklang, nun aber zu einer trivialen, gemeinen, trällernden Weise geworden ist. Das geliebte Wesen kommt zur Sabbatfeier, um dem Leichenzug des Opfers beizuwohnen. Sie ist nichts mehr als eine Dirne, die einer solchen Orgie würdig ist. Nun beginnt die Zeremonie. Die Glocken läuten, das ganze infernalische Element bekreuzigt sich, ein Chor singt den Totengesang (Dies irae), zwei weitere Chöre wiederholen ihn, indem sie ihn in burlesker Weise parodieren. Schließlich wirbelt das Sabbat-Rondo vorüber, und in den gewaltigen Ausbruch ertönt das Dies irae hinein, und die Vision ist zu Ende."