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ZUR EINFÜHRUNG Über die Entstehung eines der populärsten Wer ke Sergej Prokofjews, der Klassischen Sinfonie D-Dur op. 25 („Symphonie classique"), lesen wir in den autobiographischen Erinnerungen des Komponisten: „Den'Sommer 1917 verbrach te ich in völliger Einsamkeit in der Nähe Peters burgs. Den Flügel hatte ich absichtlich nicht aufs Land mitgenommen, weil ich versuchen wollte, ohne ihn zu komponieren. Ich trug mich mit dem Gedanken, ein ganzes sinfonisches Werk ohne Flügel zu komponieren. Bei einem solchen muß ten auch die Farbtöne des Orchesters klarer und sauberer sein. So entstand der Plan einer Sinfo nie im Haydnschen Stil, weil mir Haydns Tech nik nach meinen Arbeiten in der Klasse Tsche- repnins irgendwie besonders klargeworden und es unter so vertrauten Verhältnissen leichter war, sich ohne Klavier in die gefährliche Flut zu stür zen. Es schien mir, daß Haydn, wenn er jetzt Sergej Prokofjew (Zeichnung von Alexander Benois, 1918) noch lebte, seine eigene Art der Komposition beibehalten und gleichzeitig etwas von dem Neuen übernommen hätte. Solch eine Sinfonie nun wollte ich komponieren: eine Sinfonie im klassischen Stil. Als sie anfing, reale Formen an zunehmen, nannte ich sie ,Klassische Sinfonie', in der stillen Hoffnung, daß ich letzten Endes dabei gewinne, wenn die Sinfonie sich im Laufe der Zeit wirklich als klassisch erweisen sollte." Tatsächlich wurde das Werk, das Prokofjew als erste Sinfonie in seine Werkliste aufnahm, eine Schöpfung, die sich weit über musikalische Mo deerscheinungen der Entstehungszeit erhob. Frü her als viele andere seiner Kompositionen er rang die dem Studienfreund Boris Assafjew gewidmete Klassische Sinfonie nach ihrer von Prokofjew selbst geleiteten Petrograder Urauf führung am 21. April 1918 Weltgeltung. Die ersten Ideen zu der viersätzigen Sinfonie reiften bereits in der Konservatoriumszeit, als sich der Student mit der Musik der Wiener Klas siker, aber auch mit Orgelmusik alter Meister beschäftigte. Schon 1916 entstand die Gavotte, der spätere dritte Satz. Dann folgten Entwürfe zum ersten und zweiten Satz. Während seines Landaufenthaltes im Sommer 1917 arbeitete Pro kofjew diese Skizzen aus und schloß die voll ständig instrumentierte Partitur am 10. Septem ber desselben Jahres ab. Unbeschwert, lebensfroh lächelnd, ja jugend lich-übermütig musiziert der junge Prokofjew, schaltet und waltet nicht ohne Ironie und Pikan- terie mit vertrauten Tonleiterfiguren, Oktavsprün gen, kapriziösen Trillern und Vorschlägen, mit charakteristischem Piano- und Tutti-Wechsel und stilisiert Melodietypen des 18. Jahrhunderts aus seiner Sicht, die jeden Gedanken an histori sierende, akademische Nachahmung aus schließt. Anmut, Eleganz und Ebenmaß zeich nen das Werk aus, das, durchsichtig instru mentiert, die Haydnsche Orchesterbesetzung vorschreibt. „Die Klassische Sinfonie", so stellte der Moskauer Musikwissenschaftler W. Delson fest, „hat ein Anrecht auf diese Bezeichnung nicht nur ihrer äußeren Ähnlichkeit mit der Haydnschen Sinfonik wegen. Sie ist klassisch in der Genialität ihrer Handschrift, in ihrer knap pen Klarheit und weisen Einfachheit wie in ihrer außergewöhnlichen Ausdruckskraft".