Am 27. November 1896 kam „Also sprach Zarathustra", Tondichtung (frei nach Nietzsche) für großes Orchester op.30, in Frankfurt am Main unter des Komponisten Lei tung zur Uraufführung. Als sich der Münchner FHofkapellmeister Richard Strauss seinem „Za rathustra" zuwandte, hat er keinen Augenblick daran gedacht, einen philosophischen Kom mentar zu Nietzsches fragwürdiger Ubermen- schen-Lehre zu komponieren. Er hat auch nicht das pathologisch übersteigerte Weltbild des Dichter-Philosophen in Klänge übertragen, son dern nur den lyrisch-hymnischen Gehalt des Zarathustra-Buches zum Ausgangspunkt seiner Tondichtung genommen. So ist der Wider spruch zwischen der rein abstrakten ideellen Vorlage und dem klanglich-poetischen Ergeb nis evident. Während sich Nietzsche aus Siechtum, Ge hemmtsein und Lebensrausch in eine ersehnte Wirklichkeit schmerzvoll hineinträumte, trat Strauss mit der bajuwarischen Vitalität seines geistig und körperlich urgesunden Naturells an diese überreife Weltanschauung heran. Dabei hat er sich allein von den positiven Grundstimmungen des Nietzsche-Werkes lei ten lassen: vom Drang nach Freiheit, von der Sehnsucht nach einem besseren Dasein, von der Lebensbejahung und dem Tatendurst, von der Auflehnung gegen Mittelmaß und Rück ständigkeit. Bei der kompositorischen Einteilung des Stoffes in acht Teile ergab sich die Notwendigkeit einer anderen Form als die des bislang bevorzugten Sonatensatzes. Strauss wählte hier die Form einer sinfonischen Fantasie mit Themen und ihren Varianten sowie daraus gebildeter Durchführung. Der Partitur hat er den „FJymnus an die Sonne" aus dem „Zarathustra" vorangestellt - mit dem Kernsatz für den Musiker: „Zu lange hat die Musik geträumt; jetzt wollen wir wachen. Nachtwandler waren wir, Tagwandler wollen wir werden." Entsprechend beherrscht Sonnenaufgangs stimmung die Einleitung der Partitur: Aus schwerem Kontrabaßtremolo (unterstützt von Orgel, Kontrafagott und Großer Trommel) steigt ein Trompetenmotiv auf, das zur vollen Klangentfaltung des Orchesters führt. In dunkles Moll getaucht ist hingegen der folgende Teil, „Von den Hinterweltlern" (mit ihnen bezeichnet Nietzsche die Menschen, die hinter der realen Welt eine andere, wahrere suchen). Aus dem Naturmotiv der Einleitung entwickelt sich in glühendem Strei chermelos das Motiv der Sehnsucht. Der sich anschließende, bewegtere Ab schnitt „Von der großen Sehnsucht" läßt die Orgel ein einfaches „Magnificat" intonieren; die aufstrebenden FJarfenakkorde und die zu gewaltigem Sturm ansetzenden Läufe im Or chester malen das Bild der Sehnsucht, bis nach einem jähen Abbruch der thematisch ver wandte Abschnitt „Von den Freuden und Lei denschaften" folgt. Das Motiv der Trunkenheit strahlt in den Violinen auf; erst Posaunenrufe dämpfen seinen Glanz. Stärkster Kontrast: das klagende Oboen thema des „Grabliedes", das den Abschied von allen Jugendträumen symbolisiert. Ein Zu rück gibt es nicht, auch nicht in die hinter weltlichen Studierstuben: Eine parodistische, schulgerechte Fuge bildet den nächsten Teil, „Von den Wissenschaften". Aber unfrohes, trü bes Moll wird vom H-Dur der Sehnsucht durch schnitten. So wendet sich Strauss wieder der Fülle des wirklichen Lebens zu: Der trockenen Gelehrsamkeit der Fuge wird die Durchführung in hellen, leuchtenden Farben gegenüberge stellt. Ein großer Aufschwung führt über den Ab schnitt „Der Genesende" zum „Tanzlied", in dem sich mit walzerhaften Rhythmen und blü hendem Kolorit bereits der „Rosenkavalier"- Komponist ankündigt. Auf dem Höhepunkt er tönt der erste Schlag der Mitternachtsglocke. „Das Nachtwandlerlied" (der einzige Titel, der nicht von Nietzsche stammt) hebt an; ein be seligender, immer leiser und langsamer wer dender H-Dur-Gesang führt zum verklärenden Schluß. Doch in den letzten Takten erscheint in den Bässen nochmals das Naturmotiv des An fangs. In h verschwebt der Klang, in c versinkt der Ton. Strauss entläßt seine Fiörer nach so viel üppigem Wohlklang mit einem Gleichnis für Zwiespältiges, Rätselhaftes im Menschen.