trachters wurden in einem einzigen Bild gleichzeitig eingenommen - eine Eigenheit, die man in Picas- sos „Les demoilles d' Avignon" von 1907 erkennt. In der Literatur lie ferte die Instanz des Erzählers dem Leser eine der Zentralperspektive vergleichbare Rezeptionsweise; diese Erzählweise aber zerbrach in Gertrude Steins Werk. In der Musik boten die Tonalität und das Gefühl einer „Ausgangstonart" einen Bezugspunkt, der sich mit Per spektive und Erzählinstanz in den anderen Künsten vergleichen läßt; doch in „Le sacre du printemps" wird der Zuhörer oft gleichzeitig mit verschiedenen tonalen Implikatio nen konfrontiert. Er wird häufig auf Bezugspunkte verwiesen, die einen Halbton entfernt sind und ein Ge fühl des Widerstreits erzeugen, der nicht aufgelöst wird und dadurch beim Zuhörer zu einer anhaltenden Spannung führt. Insbesondere in der Schlußszene des „Sacre du printemps", wenn die geopferte Jungfrau stirbt, gibt es viele solcher auseinander strebenden Akkordverbindungen. Man nimmt hier auch ein dumpfes, unregelmäßiges Schlagen auf den Baßinstrumenten und den Pauken wahr, das regelmäßiger und beharr licher wird, als der Augenblick des Todes näher rückt. Anscheinend verband Strawinsky Regelmäßigkeit mit Verengung und negativen Erleb nissen und Unregelmäßigkeit mit Natur, Überfluß und den Kräften des Lebens. Als Intervall für dieses tiefe, hartnäckige und unentrinnba re rhythmische Schlagen verwende te er eine kleine Terz; man kann auch in späteren Werken noch wei tere Beispiele dafür finden, daß Strawinsky dieses Intervall als Sym bol des Todes einsetzte. Als was auch immer man „Le sacre du printemps" heute betrachten mag - als Konzertstück (in dieser Funktion ist es am erfolgreichsten) oder als Ballett, das bekanntlich sehr schwer zu choreographieren ist; als Zusammenfassung der Zeit spannungen unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg oder als endgülti ge Befreiung Strawinskys von den Repressionen seiner Kindheit; als das Ende einer musikalischen Ära oder als den Beginn einer neuen -, auf keinen Fall kann man die Kraft dieses Werkes leugnen, seine Fä higkeit, mehrere Generationen zu schockieren und zu erregen. Wenn auch Strawinsky später den größ ten Teil dieses Werkes ziemlich gleichgültig beurteilte, kann man es wohl trotzdem zu Recht als das persönlich ausdrucksvollste seiner Werke ansehen; außerdem stellte es sicherlich einen Wendepunkt in seiner Entwicklung dar. R.O. "Sacre" gilt a/s das ausdrucks vollste von Strawinskys Werken