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ZUR EINFÜHRUNG Gustav Mahler 11888J Die 1. Sinfonie ist Mahlers meistge- spielte © Der „Werdegang" der Sinfonie Nr. 1 D-Dur von Gustav Mah ler ist ziemlich verwirrend. Mah ler begann die Komposition 1 884 in Kassel und beendete sie I 888 in Leipzig, wo er als Kapellmeister neben Arthur Nikisch am Stadtthea ter tätig war. Im Oktober 1 888 wurde der Achtundzwanzigjährige Direktor der königlich-ungarischen Oper in Budapest. Er dirigierte dort am 20. November 1889 die Ur aufführung der 1. Sinfonie. Auf dem Programm stand: ^Sinfoni sche Dichtung' in zwei Teilen". Der erste Teil sah drei, der zweite Teil zwei Sätze vor. Der vierte Satz trug den merkwürdigen Titel „A la pompes funebres", also - in der Sprache Mahlers - „Wie ein Lei chenbegängnis". Für die übrigen Sätze wurden nur die Tempoüber schriften bzw. die Bezeichnung „Scherzo" mitgeteilt. Die Auffüh rung hatte überhaupt keinen Erfolg. Es kam noch schlimmer. Die nächsten zwei Aufführungen waren am 27. Oktober 1 893 in Hamburg und am 3. Juni 1 894 in Weimar. Das Werk hatte jetzt ei nen Titel. Man las (auf dem Ham burger Programm): „'Titan 1 , eine Tondichtung in Symphonieform". Auch die beiden Teile und die ein zelnen Sätze wurden erläutert: „I. Theil. 'Aus den Tagen der Jugend', Blumen-, Frucht- und Dornstücke. 1. 'Frühling und kein Ende' (Einleitung und Allegro comodo). Die Einlei tung stellt das Erwachen der Na tur aus langem Winterschlafe dar. 2. 'Blumine' (Andante). 3. 'Mit vol len Segeln' (Scherzo). II. Theil. 'Commedia Humana'. 4. 'Gestran det!' (ein Todtenmarsch in Callot's Manier). 5. 'Dali' Inferno' (Allegro furioso) folgt, als der plötzliche Ausbruch der Verzweiflung eines im Tiefsten verwundeten Herzens." Zumal nach der Weimarer Auffüh rung wurde das Werk nicht nur scharf kritisiert: Die Presse verband fast ausnahmslos Kritik mit gehäs sigsten Invektiven. Vermutlich hat Mahler unter dem Eindruck des Mißerfolges die ge nannten Titel erfunden: Der Hörer hatte jetzt etwas, woran er sich halten konnte. Aber konnte er sich wirklich etwas vorstellen? Mit „Ti tan" assoziierte er allenfalls etwas Heroisches oder Prometheisches. Aber einen längst vergessenen Ro man von Jean Paul? Es war nur folgerichtig, daß Mahler für die vierte Aufführung - in Berlin am 16. März 1 896 - sämtliche Überschrif ten und Erläuterungen wieder fal len ließ. Aber nicht genug damit: auch die Gliederung der Sinfonie in zwei Teile verschwand, und der zweite Satz - das „Bluminenkapitel" - wurde gestrichen. In dieser vier- sätzigen Form, welche auch in Berlin keinen Erfolg hatte, ist uns das Werk heute bekannt. Es ist Mahlers meistgespielte Sinfonie. Es erweist sich heute, daß Mahlers 1. Sinfonie von einer beispiellosen Kühnheit ist. Dazu gehört auch die ursprüngliche Fünfsätzigkeit, über welche sich die Kritik ebenfalls