Volltext Seite (XML)
ZUR EINFÜHRUNG im Tempel). Schwerer zu erklären ist, warum zwar der Eingangschor ein ech tes Exordium darstellt („Herr, unser Herr scher, ... zeig uns durch deine Passion..."), entgegen der Tradition jedoch keine Dank sagung als Conclusio die Passions komposition abschließt. Vielmehr steht dort ein von seltsamer Schreittanz bewegung durchpulster Chor („Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine") mit nachfolgendem Choral („Ach Herr, laß dein lieb Enge lein"). Ungeachtet der Wahrnehmung aller die ser Möglichkeiten zu selbständiger musi kalischer Entfaltung wandte Bach doch sein Hauptaugenmerk dem Bericht des Evangelisten zu sowie den Reden der handelnden Personen und Gruppen. Hier sind die melodisch-deklamatorischen Ak zente gesetzt und der harmonische Ab lauf im Kleinen wie im Großen bestimmt, hier werden aber auch übergreifende for male Zusammenhänge hergestellt. Ein der letztgenannten Aufgabe dienendes, durchaus nicht unproblematisches Mittel besteht in der weitgehenden noten textlichen Identität gewisser Turbachöre (Volkschöre) im zweiten Teil der Passion (erstmals auftretend bei „Wäre dieser nicht ein Übeltäter" und „Wir dürfen nie mand töten"). Innerhalb der symmetri schen Anordnung von drei solcher Chor paare wirkt die Kongruenz der beiden „Kreuzige"-Chöre begreiflicherweise überzeugender als die Übereinstimmung zwischen dem „Sei gegrüßet, lieber Judenkönig" der Kriegsknechte und dem „Schreibe nicht: der Juden König" aus dem Munde der Hohenpriester. Jedoch wird durch diese musikalischen Mittel ein „Herzstück" der Passion herausgehoben, in dessen Zentrum der Choralsatz steht „Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn, ist uns die Freiheit kommen." Nach ihrer „Uraufführung" hat Bach sei ne Johannes-Passion noch wenigstens drei mal aufgeführt, jeweils mit kleineren oder größeren Änderungen. Die lange Zeit als „Urfassung" geltende Version erwies sich nach neuerlicher Überprüfung als Ergeb nis eines Umarbeitungsprozesses, wäh rend die wirkliche Erstfassung sich als im wesentlichen mit der seit jeher (und auch heute) aufgeführten Gestalt identisch her ausstellte. Die etwa 1747/48 anzusetzen de letzte Fassung gleicht weitgehend der jenigen aus dem Jahre 1724, weist aller dings einige Abweichungen in der Textierung von Arien auf, in Details der Singstimmenführung, der Besetzung und Instrumentation, der Ergänzung von Vor tragsbezeichnungen und ähnliches. Ins gesamt aber zeigt die weitgehende Über einstimmung zwischen erster und letzter Fassung, daß hier Bachs ursprüngliches Konzept verwirklicht ist und auch der spä te Bach nichts Grundsätzliches daran auszusetzen hatte. Der vermeintlichen Urfassung, die in Wirklichkeit die Zweit fassung ist und im März 1725 aufgeführt wurde, braucht darum die Daseinsberech tigung nicht abgesprochen zu werden. Bach hat hier mehrere Arien ausgetauscht und den Eingangs- sowie den Schlußchor durch gewichtige Choralfantasien ersetzt: Am Beginn steht nun „0 Mensch, bewein dein Sünde groß", am Schluß „Christe, du Lamm Gottes". Alle diese Austausch sätze dürften der verschollenen Weima rer Passion entstammen. Die mit Sorgfalt hergestellte und das innere Gefüge der Passion um einige inhaltliche und forma le Bezüge bereichernde Umarbeitung zeigt, daß Bach das Werk auch in dieser Gestalt als künstlerisch vollwertig ansah. Ein Grund, die Neufassung für 1725 her zustellen und später wieder zu verwer fen, dürfte darin zu sehen sein, daß Bach nicht in zwei aufeinanderfolgenden Jah ren mit derselben Passionsmusik aufzuwar ten wünschte. Die Anreicherung mit Cho rälen stellt darüber hinaus einen Bezug her zu dem gerade in der Passionszeit 1725 vorläufig zu Ende gegangenen Jahr gang von Choralkantaten, insbesondere zu deren Eingangssätzen, die fast durch weg dem kompositorischen Modell von „O Mensch, bewein dein Sünde groß" folgen. Hans-Joachim Schulze