Schwelle zwischen Köthen und Leipzig stehend. So habe er auf architektonische Qualitäten und höhere ästhetische Ansprü che wenig Rücksicht nehmen können. Nach heutiger Kenntnis besteht jedoch über haupt kein Anlaß, mit derartigen Vermutun gen zu operieren und mit ihnen angebliche Mängel der Johannes-Passion zu entschul digen. Im Jahre 1723 fiel Karfreitag auf den 26. März, und zu diesem Zeitpunkt war an die Wahl Bachs zum Thomaskan tor nicht zu denken; vielmehr wurde der Dienstantritt des neuen Kantors Christoph Graupner erwartet. Daß dieser aus seiner bisherigen Stelle am Hofe zu Darmstadt nicht entlassen werden würde und deshalb nicht nach Leipzig gehen konnte, wird man in Leipzig frühestens um den 26.März 1723 erfahren haben. Mit der Möglich keit, nunmehr den Hofkapellmeister zu Anhalt-Köthen Johann Sebastian Bach in die engere Wahl zu ziehen, beschäftigte der Leipziger Rat sich erst in seiner Sitzung vom 9.April. Bachs erste Leipziger Passionsaufführung kann mithin erst am Karfreitag 1 724 statt gefunden haben. Gemäß einer Festle gung des Rates über den jährlichen Wech sel zwischen den beiden Hauptkirchen St.Nikolai und St.Thomä war 1724 die Nikolaikirche an der Reihe. Hiervon wur de Bach sehr spät unterrichtet; kurzfristig mußteer umdisponieren: die Raumnotauf der engen Chorempore der Nikolaikirche bewältigen, das Kirchencembalo reparie ren lassen und für eine gedruckte Nach richt sorgen, die die Hörer davon unter richtete, daß die Nikolaikirche der Auf führungsort sei, nicht, wie das gedruckte und bereits allgemein verbreitete Textheft besagte, die Tnomaskirche. Bach konnte sich nicht enthalten, seine gedruckte „Nachricht" mit einer polemischen Spit ze gegen den Rat als vermeintlichen Ur heber dieser Schwierigkeiten zu versehen, was ihm noch Wochen später einen ern sten Verweis durch den Superintendenten einbrachte. Trotz solcher Komplikationen hat Johann Sebastian Bach sich mit großem künstle rischen Ernst der Komposition seiner er sten Leipziger Passionsmusik gewidmet. Die folgenreichste Entscheidung galt dem Passionsbericht selbst: sie fiel zugunsten des originalen Bibeltextes aus und gegen die modische gereim te Paraphrase, wie sie vor allem Hamburger Dich ter, an ihrer Spit ze Barthold Hein rich Brockes, kul tivierten. Der Rück griff auf den Bibel text in der Über setzung Martin Luthers könnte als persönliches Be kenntnis Bachs ge wertet werden; es wäre aber auch an ein Einlenken Bachs auf eine Leipziger Traditi on zu denken, als deren Exponent Bachs Amtsvorgänger Johann Kuhnau dem mit „dem Verdachte der Theatralischen Music" behafteten „Madrigalischen Stylo" bereits um 1710 abgeschworen hatte. Sollte die der Erzählung des Johannes eigene Dramatik erhalten bleiben, muß ten kontemplative Partien - Ariosi und Arien - auf das Notwendigste beschränkt und die Zahl der intermittierenden Cho räle in Grenzen gehalten werden. Infol gedessen weist die musikalische Ausge staltung der einzelnen Passionsszenen gewisse, kaum zu vermeidende Ungleich heiten auf, doch wird dieser Mangel durch den exzeptionellen Rang aller acht Arien und der beiden Ariosi doch wei testgehend kompensiert. In die gleiche Richtung weist eine Lizenz, die Bach sich gestattete: die Erweiterung des Passionsberichtes um zwei kurze, je doch musikalisch ergiebige Textpartien aus dem Matthäus-Evangelium (Petri Ver leugnung und das Zerreißen des Vorhangs Nikolaikirche in Leipzig. Stich nach Joachim Scheffler 11/49)