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Rabenauer Anzeiger : 14.02.1911
- Erscheinungsdatum
- 1911-02-14
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Deutsches Stuhlbaumuseum Rabenau
- Digitalisat
- Deutsches Stuhlbaumuseum Rabenau
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id178001192X-191102140
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id178001192X-19110214
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-178001192X-19110214
- Sammlungen
- Zeitungen
- Saxonica
- LDP: Bestände des Deutschen Stuhlbaumuseums Rabenau
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Rabenauer Anzeiger
-
Jahr
1911
-
Monat
1911-02
- Tag 1911-02-14
-
Monat
1911-02
-
Jahr
1911
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Wochenschau. Der halbe Winter ist vorbei; der Volksmund b«t recht, wenn er sagt, daß der Winter es liebt, gerade in di,setz Lagen seine Visitenkarte wieder recht bestimmt abzugeben, und ebenso erhebt sich in de» Februartagen sehr oft die par^ lamentarisch« Debatte zu einer besonderen Schärfe. In d« letzten Woche aalt ft« im Reichstage, wie im preußischen Ab- zesrdnstendause »omshmlich dem deutschen Richter. Da» neue Gerichtsversastungtgesetz, dessen Beratung deshalb seht langsam oorrückte, und der preußische Justizetat mußten dazu tzeryaltsn, um die Unabhängigkeit der Richter zu kritisieren. Wir dürfen wohl sagen, da z wir auch heute noch stolz sein können aus die Gradheit unserer Richter, die einst der Müller von Sanssouci gegenüber dem König Friedrich dem Großen, der ihm sein« Mühle abbrechen lassen wollte, mit den Worten charakterisierte: „Ja, wenn das Kammergericht in Berlin nicht wäre!" Von politischen Richtern spricht man in an deren Staaten ganz offen, der deutsche hält es mit Recht und Gerechtigkeit. Fehlsprüche kommen überall einmal vor, wir brauchen da nur auf die Dreyfus-Angelegenheit in Frankreich hinzuweisen. Viel Beifall fanden in der preußischen Volksvertretung die Zweckverband-Vorlagen, die die materiell« Kraft benachbarter Gemeinden großen Zielen nutzbar machen sollen; sie dürsten in anderen deutschen Bundesstaaten Nach ahmung finden. Völlig gesichert erscheint nach dem GanH« der Kommlssionsverhandlungen die neue Militärvl^lage, di« bekanntlich in erster Reihe die technischen Waffen der Armee vervollkommnen will. Mit Ausnahme der sozialdemokratischen Partei dürfte der ganze Reichstag für dieselbe schließlich stimmen. Die im kommenden Monat bevorstehende Reise des deutschen Kaiserpaares nach seinem Besitztum auf der griechischen Insel Korfu hatte auch die Wünsche der italie nischen öffentlichen Meinung verstärkt, die Majestäten möchten zu den im März beginnenden Iubiläumsfestlichkeit für die Einverleibung von Rom in den italienischen Staat nach der ewigen Stadt kommen. Da diese Erinnerungsfeier natur gemäß den Gegensatz zwischen dem Vatikan und der italienischen Regierung wieder belebt, so war es von vorn herein unwahrscheinlich, daß das Oberhaupt des deutschen Reiches nach der Residenz des Papstes und des Königs von Italien kommen würde, um in diesen Zwist ein zutreten, zumal auch sonst von keiner Seite sein fürstlicher Besuch angekündigt worden war. Die amtliche Veröffent lichung des Reiseplanes beweist nunmehr, daß der Kaiser wohl mit dem verbündeten König von Italien in Venedig eine Begegnung haben, aber Rom selbst nicht aufsuchen wird. Damit scheidet diese Angelegenheit aus den allge meinen Erörterungen erfreulicherweise aus. Die Eröffnung des englischen Parlaments hat ein« ziemlich farblose, von dem König Georg selbst verlesen« Thronrede gebracht, die aber nachträglich in den Verhand lungen ihre Erläuterung erfahren hat. Frankreich wurden sehr liebenswürdige Worte gewidmet, während zugleich in den Zeitungen Erörterungen über eine französisch-englisch« Militär-Konvention stattfanden, die tatsächlich bestehen soll. Diese Auseinandersetzung erfolgte wohl im Hinblick auf di« Verminderung der russischen Truppen an der deutschen Grenze. Im übrigen muß anerkannt werden, daß der Ver treter der englischen auswärtigen Politik über die Potsdamer Begegnung und ihre Folgen sehr maßvoll sprach und wirk lich das Bestreben zeigte, die Gegensätze auszugleichen, di« in Wahrheit, was Deutschland und England angeht, ja auch nicht zu bestehen brauchen Der Tod des alten Boerengenerals Cronje, der zu Beginn des Jahres 1896 den Einfall der englischen Freibeuterschaar in das Transvaalgebiet zurückschlug, im großen Kriege selbst aber nach anfänglichen glücklichen Gefechten die Waffen strecken mußte, hatte die Erinnerung an den Anfang der britischen Verstimmung gegen das deutsche Reich von neuem erweckt. Hüben wie drüben ist man aber bald darüber fortgegangen. Jedenfalls könnte man in den seitdem ver strichenen Jahren in London erkannt haben, daß Deutschland nichts Arges gegen England will. Es ist erfreulich, daß sich der König Georg selbst beim Empfange deutscher Geistlichen in sehr freundschaftlichem Sinne ausgesprochen hat. Einen peinlichen Vorfall erlebte die französische Militärverwaltung, eine Hunger-Revolte von Marseiller Artilleristen, die den Dienst wegen zu geringer Ernährung verweigerten. Die Abzüge waren gemacht, um aus den Ersparnissen frühere Unterschlagungen zu decken.. . „ Sie Merreichisch-ungarischen Reichs-Delegattonen in s Budapest haben die Darlegungen über die neuen Armee- und Marineverstärkungen recht freundschaftlich ausgenommen, o daß die Bewilligung al» gesichert «nzusehen ist. Weniger riedlich geht es hingegen im Wiener Reichsrat zu, wo man ich sehr wenig parlamentarische Benennungen an den Kopf warf. Zu einem drohenden Duell kam es indessen nicht. Im Orient hat der Brand der „Hohen Pforte", des alten Regierungrgebäude» in Konstantinopel, das immer als ein Zeichen osmanischer Hoheit galt, tiefen Eindruck gemacht. Das neue Reform-Regiment hat ja die besten Absichten, aber dem gewöhnlichem Muselmann will es keineswegs einleuchten, Paß Allah es so gnädig mit den heutigen Mannern meint, Und der Brand bestärkt die Bevölkerung in dieser Meinung. Politische NunLschan. Dis Kosten Ser Mui'-äruoLiags. Die Befürchtungen, die Kosten der auf 141,4 Millionen veranschlagten neuen Militärvorlage würden nicht ausreichen, sind durch die Er klärungen der Staatssekretärs des Reichsschatzamtes und des Kriegsministers in der Budgetkommission des Reichstages beseitigt worden. Militär- wie Finanzverwaltung werden sich genau nach den Voranschlägen richten. Damit dürfte» auch die Einwendungen aus den Abgeordiietcnkreisen sinken. Eigenartig ist die Stellung der Sozialdemokraten; ihr Redner fand es berechtigt, die Technik in der Armee auf der Höhe zu halten, betonte auch, die Sozialdemokraten würden in einem Kriege ihre Pflicht tun, aber die Vorlage lehnte er doch ab. In Paris nahmen die sozialdemokratischen Abge ordneten den Etat stets an. Dis elfafj-ltMringksche Verfassungsfrage. In der Verfassungsfrage für Glaß-Lothringen herrscht zurzeit zwischen der Reichsregisrung und der reichsländischen Vertretung ein vollständiger Gegensatz. Letztere fordert einmütig die völlige Gleichstellung Elsaß-Lothringens mit den deutschen Bundes staaten, während die Reichsregierung durch den Mund des Staatssekretärs Dr. Delbrück aufs allerbestimmteste erklären ließ, sie könne über die im Entwurf gemachten Zugeständ nisse nicht hinausgehen. Da ferner betont worden ist, daß ein Beharren auf Mehrforderungen nur die Vertagung der so wichtigen Verfassungsoorlage auf unbestimmte Zeit zur Folge haben würde, da schließlich auch aus der allgemeine» ersten Besprechung im Plenum des Reichstages auch bei den reichsländischen Abgeordneten eine allgemeine Stimmung für eine Verständigung sich kund tat, so kann man annehmen, daß der erwähnte.Antrag zurückgezogen werden wird. Aber selbst wenn er aufrecht erhalten wird, kann er kaum ein« ernstliche Gefährdung der Vorlage sein. DerReichstag kann in keiner Weise durch den Landesausschuß beeinflußt werden. Selbst die elsaß-lothringischen Reichstagsabgeordneten machen ihre Stellungnahme nicht von dem Verhalten des Landes ausschusses abhängig. Eine Einigung in der Verfassungs frage ist daher weiter zu erhoffen. An dem Kurpfuschsreigesetz möchte man in der Rsichstagskommission recht gründliche Umänderungen vor nehmen. Wir müssen uns demgegenüber aber gegenwärtig halten, daß die medizinische Wissenschaft nicht auf Theorien, sondern auf praktischen Erfahrungstatsachen aufgebaut ist. Wie im alten Germanentum, so sind noch heute Lie Frauen vielfach die Trägerinnen der Kunde von der heilsamen Wirkung der Kräuter und von der zweckgemäßen Anwendung der sogenannten Hausmittel. Die Wissenschaft erweitert diesen Kreis des Arzneischatzes durch ihre Forschungen und lehrt besonders die Krankheiten erkennen. Die studierten Arzte halten heute oft von den neueren Chemikalien nicht besonders viel, wie sie überhaupt in der Verordnung von Arzneien Zurückhaltung üben. Wer Sinn und Neigung für die Sache hat, der sammelt die Kenntnis einer großen Mengs bewährter Mittel und schwingt sich zu einer Art Gemeindedoktor auf, wird auch wohl in weiteren Kreisen bekannt. Gegen eine derartige Methode, die in jedem Falle den Vorzug der Unschädlichkeit hat, läßt sich wenig ein- wenben. Betrügerischen Manipulationen aus schnödem Geld gewinn sollte das Gesetz dagegen -mit schärfstem Nachdruck entgegentreten und das ganze Geheimmütslwesen gründlich unter die Lupe nehmen. „Die Wirtschaftspolitik meines Vorgängers, die schon vom Fürsten Bismarck eingeleitet wurde, werde ich iürtseßen, und das bei den Verhandlungen über den Ab schluß von Handelsverträgen »Nit Schwede und Japan be weisen", so etwa sagte der Reichskanzler von Bethmann Hollweg in seiner Rede am 10. Dezember v. I. im Reichs- tag«. Dazu wird sich nun bald Gelegenheit finden müssen, denn der bestehende Handelsvertrag mit Japan läuft im Sommer, der mit Schweden im Herbst ab. Der Reichstag muß daher noch beide Vertragsentwürfe vor Schluß der Session erledigen. — Befriedigend wie die wirtschaftliche Lage ist auch diejenige des Eisenbahnverkehrs, wie aus dem Bericht des Ministers von Breitenbach über die Erfolge der letzten zehn Jahre an unseren Kaiser und aus dem Dank des Monarchen über den Nachweis der erzielten Resultate hervorgeht. Die Nervosität spielt unseren guten Freunden jenseits des Kanals und der Vogesen ost genug einen bösen Streich. So geschah es soeben wieder dem Pariser Temps, der von schlimmen Plänen Deutschlands, an seiner Westgrenze strategische Eisenbahnen zu bauen, berichtete, und der dabei von Bahnstrecken sprach, die längst im Betrieb bezw. im Bau befindlich und jedermann bekannt sind. — In England, wo die Nervosität Deutschland gegenüber oft die seltsamsten Blüten trieb, hat wenigstens die Regierung in der neuen Parlamentstagung wiederholt erfreuliche Proben der Be sonnenheit gegeben. Nach den versöhnlichen Erklärungen des Premierministers Asquith über die Potsdamer De- kegnuna äußerte sich auch der Lord der Admiralität Mc. Kenna in sachlicher Weise über das deutsche Flotienproaramm. Leider hält die Wirkung solcher Kundgebungen in England nur niemals lange vor. Ruhland. Die Marineverwaltung ist wiederum scharf kritisiert. Die Reichsduma erklärte bei Erörterung der jüngsten Havarien von Kriegsschiffen, daß diese nicht nur das Resul tat der Unachtsamkeit und Nachlässigkeit einzelner Amtsper sonen, sondern des ganzen Dienstes und des Systems im Marineministerium seien, wo eine falsche Organisation und Mangel an erfahrenen und gut geschulten Spezialisten herrsche. — Gleich ihren männlichen Kommilitonen wollen auch die Studentinnen b zum Ende des Frühjahrs streiken, wenn den Universitäten nicht die geforderten größeren Freiheiten gewährt werden. Die jungen Damen werden sich aber wohl schnell eines andern besinnen, da der Minister kühl erklärte, wenn die Studentinnen ausblieben, würden die Kurse für sie einfach geschlossen und auch später nicht wieder eröffnet werden. Arankreich. Die Unbotmäßigkeiten in der französischen Armee nehmen kein Ende. Soeben erst verweigerten Artilleristen in Marseille den Gehorsam, und schon ereignete sich in Poitiers wieder eine ernste Disziplinlosigkeit. Dort trat während einer Übung der Soldat Couston des 12S. Linienregiments vor die Front, warf dem Sergeanten sein Gewehr vor die Füße und erklärte, er habe genug von der Schinderei. Dann zog er sein Seitengewehr und rief: Wer sich nähert, den steche ich nieder! Die Offiziere suchten Couston zu beruhigen, der in der Kaserne noch einmal zu rebellieren begann und schließlich in Arrest abgeführt wurde. — Seltsame Justiz wurde in einem Rechssireit eines Fräuleins Fontaine gegen die Direktion der staatlichen West bahn geübt. Der jungen Danie, welcher bei einer Fahrt auf dieser Bahn ein Koffer, dessen Wert mit 325 Franks berechnet war, gestohlen worden war, wurde ermächtigt, auf dem Bahnhof Lison drei Lokomotiven der genannten Eisen bahn pfänden zu lassen. Interessant ist daran, daß wegen einer Lapalie von 325 Fr. Staatseigentum gepfändet wurde. — In einer Pariser Fürsorgeanstalt hatte man einen 15jährigen Fürsorgezögling 20 Tage lang mit nackten Füßen in einer Einzelzelle eingesperrt gehalten. Den: Unglücklichen waren beide Füße total erfroren, so daß sie amputiert werden müssen, Gegen den Anstaltsleiter wurde ein Strafverfahren ausgenommen. Asien. Die Pest hat auch in Schantung bereits mehrere hundert Opfer gefordert; das benachbarte deutsche Tsingtau ist bisher aber seuchenfrei geblieben, und infolge der Sperre hält man eine Gefährdung der Europäer für ausgeschlossen. Sehr bedauerlich ist es, daß die Pest ihren Einzug auch in den durch sein gesundes Klima berühmten Hafenort Tschifu hielt. Rußland liegt von allen europäischen Staaten dem Seuchengebiet am nächsten und hat daher auch in erster Linie für die Bekämpfung der furchtbaren Krank heit sowie der in ihrem Gefolge aufgetretenen Hungersnot und Plünderungswut zu sorgen; China allein wird nicht der Seuche und ihrer Folgen Herr werden. Ein Reisegeschlchlc von Hedwig Lange. (Stachdruck verboten.) Ein Weilchen später tritt sic oors Haus, zum Ausgehen gerüstet. Mit flüchtigem Gruß will sie an der Veranda und den behaglich plaudernden Menschen vorbei. Tie rundliche, blühende, mecklenburgische Gutsbesitzerin, die inmitten ihrer drei ebenso rundlichen und blühenden Töchter Tining, Lining und Mining dem Eingang zunächst sitzt, ruft Ilse ein verwundertes: „Wohin denn so früh und so allein?" zu und „ob sie denn schon gefrühstückt habe". „Nach Spindelmühl," antwortete Ilse ziemlich ab lehnend, das „allein" überhörend, und das Frühstück hätte sie bereits vor ein paar Stunden in Gesellschaft von Tante und Onkel, die schon wieder auf der Reise seien, einge nommen. Da sie sich bei den letzten Worten zum Weitergehen anschickt, kann sie eben nur noch ein: „Viel Vergnügen!" von der Veranda her in Empfang nehmen. Ilse ist sich ganz klar darüber, daß man es da oben, besonders aber von selten der Mecklenburger Damen, befremdlich finden würde, daß sie so wenig Miene macht, Anschluß zu suchen, sondern ihren Weg allein geht, nachdem sich gestern die Pflegemutter Mühe gegeben, sie mit allen bekannt zu machen, insbesondere der freundlichen Frau Stavenow und ihren Töchtern ans Herz zu legen. Aber es wäre ihr in ihrer augenblicklichen Gemütsverfassung unmöglich, mit fremden, gleichgültigen Menschen zusammen zu sein und an gleich gültigem Geplauder teilzunehmen. Ihre nervöse Üeber- reiztheit vermag die wirkliche Teilnahme, die einige Gäste des Hauses Engelbrecht ihr, dem blassen, leidend aus sehenden Ding, zuwenden, nicht von Neugier zu unterscheiden. Freundlich gemeintes Entgegenkommen verwandelt ihre übertreibende Phantasie in dreiste Zudringlichkeit. Der Argwohn, daß man ihr besonderes Verhältnis zur Tante durchschauen und mit rohen Fingern an ihrem Geheimnis Herumtasten könnte, stachelt sie zur Abwehr aller schein baren Freundlichkeiten. Als sie in den schönen, breiten Tannenweg einbiegt, der nach Spindelmühl führt, kommt ihr der Landbriejträgcr entgegen, dessen Bekanntschaft sie bereits gestern gemacht. Der alte rüstige Mann grüßt schon von weitem mit der zu vorkommenden Freundlichkeit, welche die Landbewohner ihren Sommergästen entgegenbringen, und beginnt in seiner Tasche zu kramen. „Schönen, guten Morgen, Fräulein Ruhland! Gell, das sind Sie doch? Hab' halt ein gut's Gedächtnis für meine Kunden. Da hat's auch ein Briefe! für Ihnen, halt ein feines — von einem Herrn. G'wiß der Schätzel, der geschrieben hat, gell?" So plaudernd, hat er das fragliche Schreiben mühsam und umständlich hervorgesucht und überreicht es nun dem jungen Mädchen mit einer jugendlich eleganten Schwenkung. Ilse hat auf all die freundlich harmlosen Reden bloß ein knappes „Danke". Der vorauseilende Blick hat die Hand schrift auf dem Kuvert bereits festgestellt und als die des Vaters erkannt. Alles Blut strömt ihr zum Herzen. Die Hände zittern ihr, als sie im Weiterfchreiten den Um schlag aufreißt. Sie sieht es nicht, daß der alte Mann den Kopf nach ihr wendet, und noch weniger ahnt sie, daß es just keine Schmeichelei ist, die er ihr halblaut nachbrummt: „Halt ein hochnäsig' Ding, dies Fräulein Ruhland, hat keine Freundlichkeit übrig für Leut', die sie nix angehen. Da sind die anderen Stadtfräulein, die Lining und Mining, anders. Ja, ja, unser Herrgott hat halt verschiedene Kost gänger," und die Erinnerung an diese andersartigen Ver treter der Stadtleut' hellt ihm dasgute, alteGesicht wieder auf. „Liebe Tochter," steht in dem Briefe, den Ilse ent faltet — die erste Seite nimmt den ganzen Inhalt auf — „ein schwerer Fall hält mich voraussichtlich noch einige Wochen hier fest. Ich muß daher zu meinem Bedauern auf das geplante Zusammensein in St. Peter verzichten. Unser Wiedersehen wird nun also doch in Dornburg stattfinden. Ich komme voraussichtlich, sobald Ihr von Eurer Reise zurück seid. Dein Bater Ruhland." In Ilses weißes Ge sicht sind während des Lesens die Farben zurückgekehrt. Das Gefühl grenzenloser Erleichterung und Befreiung durch- ktrömt sie. Gott fei gedankt, er kommt nicht! Diese Wochen hier gehören ihr noch ungeschmälert, und nun will sie ein mal genießen — mit allen Sinnen die ihr so kurz ge messenen Tage der Freiheit und Selbständigkeit genießen. An das „Später" nicht denken. Ein glücklicher Rausch überkommt sie, wie ihn der Angeklagte empfinden mag, der Verurteilung erwartete, und dessen Verdikt plötzlick) „Freilassung" lautet. Aber er verfliegt; die alte Stimmung kehrt zurück. Es ist ja nur ein Aufschub. Sie liest das kurze Schreiben zuin zweiten Male, diesmal wieder die Sonde der Kritik anlegend, wie sie es immer tut den Briefen ihres Vaters gegenüber. Wie kühl, wie konventionell er gehalten ist! Da klingt kein Ton hervor, der ein Echo in ihrem Herzen hätte erwecken können, da dringt keine Wärme heraus, an der ihr das innerliche Frösteln vergehen kann. Ist es ein ! Wunder? Was können sie denn füreinander empfinden, der Vater, der sein Kind als Dreijährige von sich gegeben, und die Tochter, die von eben dem Vater all die langen . Jahre her nur Beweise seines auf ihr alleräußerlichstes Wohlergehen gerichteten Gedenkens erhalten hat, den sie nie gesehen? Ilse hat natürlich keine Erinnerung an ihn. Aber wie man sich von denjenigen Menschen, für welche man sich interessiert, obgleich man sie nicht persönlich kennt, eine bestimmte Vorstellung zu schaffen pflegt, so trägt auch Ilse das Bild ihres Vaters in ihrer Vorstellung mit sich herum, und sie wäre erstaunt gewesen, wenn sich ihr der Vater als ein ganz anderer präsentiert hätte. Ja, es wäre ihr schwer geworden, die Wirklichkeit mit ihrem f Phantasiegebilde inEinklang zu bringen. Daß dies Phantasie bild leinen einzigen sympathischen Zug aufweist, ist selbst verständlich. 4. Kapitel. „Nu', die G'sellschaft ist wohl glei' vollzählig? Ich kann die Suppe austragen, gell?" fragte Frau Engelbrecht, indem sie in den Speiseraum eintritt und mit einem prüfenden Blick die Tafel überfliegt. (Fortsetzung folgt.)
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