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5. ZYKLUS-KONZERT CARL MARIA VON WEBER UND DIE ROMANTIK Festsaal des Kulturpalastes Dresden Mittwoch, den 21. Januar 1987, 19.30 Uhr Donnerstag, den 22. Januar 1987, 19.30 Uhr dresdner oNIhairnoornie* Dirigent: Christian Kluttig, Halle Solist: Michail Sekler, Sowjetunion, Violine Carl Maria von Weber 1786-1826 Peter Tschaikowski 1840-1893 Sinfonie Nr. 2 C-Dur Allegro Adagio ma non troppo Menuett (Allegro) Finale (Scherzo-Presto) Konzert für Violine und Orchester D-Dur op. 35 Allegro moderato Canzonetta (Andante) Allegro vivacissimo PAUSE Robert Schumann 1810-1856 Sinfonie Nr. 3 Es-Dur op. 97 (Rheinische) Lebhaft Scherzo (Sehr mäßig) Nicht schnell Feierlich Lebhaft (Mit den Instrumentationsretuschen von Gustav Mahler) Generalmusikdirektor CHRISTIAN KLUTTIG, seit 1979 Musikalischer Oberleiter am Landestheater und Chef dirigent des Händel-Festspielorchesters Halle, stammt aus Dresden, wo er 1943 geboren wurde, die Kreuz schule besuchte und 1961—1967 an der Musikhochschule „Carl Maria von Weber" studierte (Dirigieren bei Ru dolf Neuhaus und Horst Förster, Klavier bei Ingeborg Finke, Fagott bei Hans Wappler). Mehrfach nahm er an den Dirigierkursen von Arvid Jansons und Igor Mar- kevitch im Rahmen des Weimarer Musikseminars teil, 1975 am Meisterkurs Hans Swarowskys in Wien. Er er hielt 1969 den Förderungspreis des Carl-Maria-von- Weber-Wettbewerbes für Dirigenten Dresden, 1971 das Mendelssohn-Stipendium und 1981 den Händelpreis der Stadt Halle. Seine Laufbahn begann er als Solorepe titor mit Dirigierverpflichtung an der Staatsoper Dres den. 1970-1975 wirkte er als 1. Kapellmeister, 1975 bis 1979 als Musikalischer Oberleiter an den Städti schen Theatern Karl-Marx-Stadt. Er gastierte bei vielen B^rchestern der DDR (bei der Dresdner Philharmonie ®69 und 1975) und in fast allen sozialistischen Ländern ^oesonders häufig in Jugoslawien) sowie in Finnland und Österreich. MICHAIL SEKLER stammt aus Ordshonikidse. Im Alter von neun Jahren trat er in die Musikschule seiner Hei matstadt ein, und bereits als lljähriger spielte er Ka balewskis Violinkonzert in einem öffentlichen Konzert. Später studierte er an der Gnessin-Schule und am Konservatorium in Moskau. In der Aspirantenklasse David Oistrachs vervoll'- ommnete er anschließend seine Ausbildung. Bereits als 20jähriger Student siegte er im Internationalen Paganini-Wettbewerb in Genua. 1974 wurde er Preisträger beim Internationalen Tschaikowski- Wettbewerb in Moskau. Seine künstlerischen Aktivitäten erstrecken sich sowohl auf den solistischen Bereich wie auf das Ensemblespiel. Mehrere Jahre war er Primarius des Moskauer Streichquartetts. Konzertverpflichtungen führten ihn durch viele europäische Länder, nach Mit tel- und Südamerika. ZUR EINFÜHRUNG Carl Maria von Weber schrieb seine beiden Sinfonien als Zwanzigjähriger — zwi schen Dezember 1806 und Januar 1807 — in Carlsruhe (Schlesien). Hierhin hatte ihn Herzog Eugen Friedrich Heinrich von Württemberg-Ols eingeladen, wo er einige Monate lang als Gast des musikliebenden und -ausführenden Fürsten das kleine, jedoch sehr leistungsfähige Hofor chester leitete, bis die Kriegswirren ihn ver trieben. Beide Sinfonien verzichten auf die Klarinetten, die im Carlsruher Orchester nicht besetzt waren, bevorzugt erscheinen dagegen, da virtuose Spieler zur Verfügung standen, Oboe und Horn. Wie die 1. Sinfonie Webers hat auch die Sinfonie Nr. 2 C - Du r, die Jeider kaum noch zu hören ist, ihren Ursprung Äder Formenwelt Haydns und Mozarts. Sie ist Einheitlicher konzipiert, jedoch weniger ur sprünglich als die erste. Gleichwohl erfreut sie durch ihre jugendliche Frische, durch einfalls reiche Klangfärbung und schon individuelles Gepräge. Nach einer viertaktigen, majestätischen Einlei tung trägt die Oboe das leichtblütige erste Thema des ersten Satzes (Allegro) mit einer typisch Weberschen harmonischen Wendung vor. Auch das zweite Thema, das vom Horn vorgetragen wird, ist schon ein „echter Weber". Die Behandlung des Orchesters, die Art der Durchführung und des formalen Aufbaues des Satzes, der von beträchtlichen dramatischen Spannungen lebt, ist jedoch noch ganz klas sisch. Im stimmungsvollen zweiten Satz (Ada gio ma non troppo) bricht schon die Empfin dungswelt des „Freischütz" durch: charakteri stisch ist sein düsterer Bratschenklang, nicht minder bezeichnend die echt Webersche Hauptmelodie der Oboe, die harmonischen Finessen des Stückes. (Der Komponist benutzte den Satz 1822 noch für ein höfisches Festspiel zu Ehren des Prinzen Johann von Sachsen.) Das kurze Menuett mit Trio besinnt sich auf seine Herkunft als Volkstanz. Das Finale ist eigent lich ebenfalls ein Menuett, dessen Tempo je doch sehr gestrafft ist (Presto), so daß sich sein Charakter vom behäbigen Menuett zum geist reichen Scherzo verändert hat, das mit Leichtig keit, ja keß-humorvoll dahinsprudelt und seine größte Überraschung in den Schlußtakten bringt. Auch in der russischen Musikgeschichte hat der Name Webers seinen festen Platz. Für Michail Glinka, den „Vater der russischen Musik", der durch Berlioz den „Freischütz" kennenlernte, bedeutete dies den Anstoß, auch seinem Volk — mit „Iwan Sussanin" — eine Nationaloper zu schenken. Selbst beim „Mächtigen Häuflein" spielte Weber eine nicht unbedeutende Rolle. Vor allem PeterTschaikowski hat sich mehrfach über Weber geäußert. Trotz gewisser Einschränkungen erkannte er beispielsweise die Ausnahmestellung der „Euryanthe". Geradezu begeistert war er vom „Freischütz" — neben „Iwan Sussanin" und „Don Giovanni" eines seiner Lieblingswerke — und vom „Oberon". Es gibt fast keinen Künstler, dessen mu sikalische Persönlichkeit ebenso originell, ei genartig und gleichzeitig sympathisch wäre." Dieses Sympathische bestehe vor allem „in der Wärme, in der Unmittelbarkeit der Eingebun gen, dem vollständigen Fehlen von Künstelei und technischer Anstrengungen ... In der mu sikalischen Charakteristik ist er ein Meister, dem höchstens Mozart gleichkommt". „Die träumerisch-sentimentale Agathe, ihre leicht sinnige Freundin Ännchen, der charakterlose Max, der energische Kaspar, sogar eine solch episodische Rolle wie der Eremit, alle diese Gestalten sind von ihm mit einer solchen wahr heitsgetreuen Ausstrahlung, mit einer solchen Liebe und einer strengen Konsequenz geschil dert, fern von jeder Nachsicht gegenüber den Forderungen des Publikums auf der einen und 'er Gesangsvirtuosität auf der anderen Seite, daß die Musik fast die Realität der bildenden Künste erreicht". Tschaikowski schrieb wie Beethoven und Brahms lediglich ein Violinkonzert, das allerdings wie deren Werke gleichfalls zu den Glanzstücken der internationalen Konzertlite ratur gehört. Das in Ausdruck und Stil charak teristische, eigenwüchsige Werk, in D-Dur ste hend, wurde als op. 35 Anfang März 1878 in Clärens am Genfer See begonnen und bereits Anfang April vollendet. Tschaikowski widmete das ausgesprochene Virtuosenstück ursprüng lich dem Geiger Leopold von Auer, der es aber zunächst als unspielbar zurückwies und sich erst viel später für das Werk einsetzte. Die Ur aufführung wagte schließlich Adolf Brodski am 4. Dezember 1879 in Wien unter der Leitung Hans Richters. Unfaßbar will es uns heute er scheinen, daß das Werk vom Publikum ausge zischt wurde! Die Presse war geteilter Mei nung. Der gefürchtete Wiener Kritiker Dr. Eduard Hanslick, Brahms-Verehrer und Wag ner-Feind, beging mit seiner Rezension des Tschaikowski-Konzertes wohl einen seiner ka pitalsten Irrtümer. Er schrieb u. a.: „Da wird nicht mehr Violine gespielt, sondern Violine gezaust, gerissen, gebleut. Ob es überhaupt möglich ist, diese haarsträubenden Schwierig keiten rein herauszubringen, weiß ich nicht, wohl aber, daß Herr Brodski, indem er es ver suchte, uns nicht weniger gemartert hat als sich selbst . . . Tschaikowskis Violinkonzert bringt uns zum erstenmal auf die schauerliche Idee, ob es nicht auch Musikstücke geben könnte, die man stinken (!) hört.“ Haarsträubend, schauerlich mutet uns heute dieses Fehlurteil Hanslicks an, das der Kompo nist übrigens jederzeit auswendig aufsagen konnte, so sehr hatte er sich darüber geär gert, während das Konzert inzwischen längst zu den wenigen ganz großen Meisterwerken der konzertanten Violinliteratur zählt. Das Werk wird durch eine kraftvolle Männlichkeit im Ausdruck, durch eine straffe Rhythmik ge kennzeichnet und ist betont musikantisch ohne Hintergründigkeit, Pathos oder Schwermut. Die Quellen, aus denen Tschaikowski hier u. a. schöpfte, sind das Volkslied und der Volkstanz seiner Heimat. Betont durchsichtig ist die In strumentation, die beispielsweise auf Posaunen verzichtet. Aus der Orchestereinleitung wächst das groß artige, tänzerische Hauptthema des stim mungsmäßig einheitlichen ersten Satzes (^k legro moderato) heraus, das dem ersten des Konzertes, teils im strahlenden Orchester klang, teils in Umspielungen der Solovioline, seine faszinierende Wirkung verleiht, während das zweite, lyrische Thema demgegenüber et was in den Hintergrund tritt. Auf dem Höhe punkt des Satzes steht eine virtuose Kadenz des Soloinstrumentes, dem das ganze Konzert überhaupt höchst dankbare Aufgaben bietet. Der zweite Satz (Andante) trägt die Über schrift: Canzonetta. Kein Wunder, daß das Hauptthema innigen Liedcharakter besitzt und die Stimmung dieses Satzes weitgehend trägt, ohne dem geschmeidigen Seitenthema größe ren Raum zu geben. Unmittelbar daran schließt sich das Finale (Al legro vivacissimo) an, das vom Solisten ein Höchstmaß an geigerischer Virtuosität in Ka denzen, Passagen, Flageoletts usw. verlangt. Das formale Schema des Satzes ist etwa mit ABABA zu umreißen. Beide Themen haben na tionales russisches Profil. Das erste wächst aus der übermütigen Orchestereinleitung heraus, das zweite, tanzartige, wird von Baßquinten begleitet. Unaufhörlich stellt der Komponist die Themen vor, elegant und formgewandt va riiert. Strahlend endet der temperamentge^B dene Schlußsatz des Konzertes, das zweifellw eine der überragendsten Kompositionen Tschaikowskis ist. Das Band, das Weber mit Robert Schu mann verbindet, kann man als geistige Ver wandtschaft bezeichnen. Beide gehörten dem neuen Typus des schriftstellernden Komponi sten, des literarisch versierten und auch kri tisch tätigen Musikers an, wobei ihre Ansich ten mitunter geradezu überraschend überein stimmten. Ob Schumann bei der Gründung der „Davidsbündler" vom Weberschen „Harmoni schen Verein" beeinflußt war, läßt sich freilich