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Ist dies etwa der Tod?*, heißen die letzten Zei len; und wie eine zarte Reminiszenz zieht im Horn das Hauptthema aus ,Tod und Verklä rung' vorüber. Dennoch ist es für Strauss be merkenswert, daß er das Lied nicht in Schu- bertscher Schwermut ausklingen läßt, sondern nach der schicksalsschweren Frage nochmals das programmatische Lerchenmotiv anstimmt. Wie silbriger Glanz aus dem Tale des Todes tönt bis zuletzt der zart jubilierende Triller der Piccoloflöten, mit dem die beiden Vögel zuvor .nachträumend in den Duft' des Abendhimmels aufsteigen. Die anderen Gesänge sind nach Versen Hesses geschaffen. .Frühling' ist ein .Licht übergossenes' Bild heller Geistigkeit. .Beim Schlafengehen' kleidet Empfindungen des Abschieds in eine sanft modulierende Me lodielinie, die von der Solovioline an den Solo sopran weitergegeben wird — das in seiner Melos-Süße am stärksten inspirierte Stück. .September’ besingt in humorig-hoffnungssu- chendem Ton das Blühen des Gartens und das Vergehen der Natur.“ Richard Strauss: Vier letzte Lieder Frühling — Hermann Hesse In dämmrigen Grüften träumte ich lang von deinen Bäumen und blauen Lüften, von deinem Duft und Vogelsang. Nun liegst du erschlossen in Gleiß und Zier von Licht übergossen wie ein Wunder vor mir, Du kennst mich wieder, du lockst mich zart, es zittert durch all meine Glieder deine selige Gegenwart. September — Hermann Hesse Der Garten trauert, kühl sinkt in die Blumen der Regen. Der Sommer schauert still seinem Ende entgegen. Golden tropft Blatt um Blatt nieder vom hohen Akazienbaum. Sommer lächelt erstaunt und matt in den sterbenden Gartentraum. Lange noch bei den Rosen bleibt er stehn, sehnt sich nach Ruh. Langsam tut er die müd gewordenen Augen zu. Beim Schlafengehen— Hermann Hesse Nun der Tag mich müd gemacht, soll mein sehnliches Verlangen freundlich die gestirnte Nacht wie ein müdes Kind empfangen. Hände laßt von allem Tun, Stirn vergiß du alles Denken, alle meine Sinne nun wollen sich in Schlummer senken. Und die Seele, unbewacht, will in freien Flügen schweben, um im Zauberkreis der Nacht tief und tausendfach zu leben. Im Abendrot — Joseph von Eichendorff Wir sind durch Not und Freude gegangen Hand in Hand; vom Wandern ruhen wir nun überm stillen Land. Rings sich die Täler neigen, es dunkelt schon die Luft, zwei Lerchen nur noch steigen nachträumend in den Duft. Tritt her und laß sie schwirren, bald ist es Schlafenszeit, daß wir uns nicht verirren in dieser Einsamkeit. O weiter, stiller Friede, so tief im Abendrot. Wie sind wir wandermüde — ist dies etwa der Tod? „Er weiß, daß ein Künstler, der immer in dem gleichen Kostüm auftritt, aufhört, uns zu inter essieren. Daher verwandelt er sich, er wech selt seine Haut und erscheint immer wieder als ein Neuer, unkenntlich für jene, die ein Kunst werk nur nach seiner Außenseite beurteilen“". Aus dieser Charakterisierung Igor Stra winskys von Jean Cocteau aus dem Jahre 1922 ist herauszuhören daß — trotz unterschied lichster stilistischer Gewandung — des Kompo nisten künstlerische Aussage in ihrem Kern im mer dieselbe geblieben ist, er bei all seinen künstlerischen Metamorphosen stets seine In dividualität wahrt. Strawinsky, 1882 in Oranien baum bei Petersburg geboren und 1971 in New York gestorben, hat etwa hundert Werke ver schiedenster Gattungen geschaffen. Wiederholt entflammten um seine Kompositio nen leidenschaftliche Auseinandersetzungen. Die Begeisterung seiner Anhänger und der Hohn seiner Gegner, stürmische Ovationen und ohrenbetäubendes Pfeifen lösten einander ab. Die emotionale Aufnahme der Musik Strawin skys ist in vieler Beziehung mit den Besonder heiten seines künstlerischen Weges verbunden, der reich ist an überraschenden und jähen Wendungen. Nachdem er als Schüler der stren gen Rimski-Korsakowschen und Glasunow- Schule begonnen hatte, wurde Strawin- stark durch den modernen französischen , ressionismus beeinflußt. Der Enthusiasmus für diesen Stil war jedoch nicht von Dauer: Der junge Petersburger wandte sich bald wieder vom impressionistischen „Glauben“ ab und wurde einer der Führer der Opposition gegen die Kunst Debussys. Wenige Jahre vergingen, und es folgte eine neue „plötzliche Modula tion" Strawinskys — vom Neoprimitivismus zum Neoklassizismus. Endlich, nach verschiedenen Experimenten im Rahmen dieser Stilrichtung, versetzte der Komponist seine Zeitgenossen erneut in Erstaunen und wurde ein überzeugter Anhänger der dodekaphonen Komponisten, seiner vorherigen Antipoden. Strawinsky ist ein typischer Vertreter der „rei nen" Kunst. Immer bekannte er sich zum „l’art pour I’art"-Standpunkt, leugnete die gesell schaftliche Funktion der Kunst und floh vor den heftigen Ereignissen seiner Zeit. In diesem Sin ne ist Igor Strawinsky ein charakteristischer Re präsentant der bürgerlichen Ästhetik unseres Jahrhunderts. Und doch konnte er als großer Künstler die unruhige Atmosphäre seiner Epo che nicht ignorieren, vor allem nicht die Gewit teratmosphäre des vorrevolutionären Rußland, ^fe/ohl in „Petruschka" als auch im „Sacre du Wmtemps" spiegelt sich zweifellos eine neue Zeit wider, ein Empfinden der Realität, das im Vergleich mit dem Weltgefühl der Künstler des 19. Jahrhunderts dynamischer und impulsiver ist. Die neuen Ausdrucksmittel, die der Kom ponist für diese Werke fand, hinterließen im Musikschaffen des 20. Jahrhunderts wesentliche Spuren. Den ersten entscheidenden Markstein in Stra winskys Leben setzte die aufsehenerregende Uraufführung seines Balletts „Der Feuer- v o g e I " im Jahre 1910 am Pariser Theätre des Champs Elysees durch das Djagilew-Ballett. Noch mangelt es dem Werk des noch nicht 30jährigen Komponisten an innerer Geschlos senheit, Logik der Entwicklung. Musikalisch ist deutlich der Einfluß der Großen des französi schen Impressionismus spürbar. Dennoch tritt hier bereits deutlich die schöpferische Indivi dualität des späteren „Petruschka"-Autors her vor, die sich sowohl in vielgestaltigen, größten teils kurzen Motiven und Themen als auch in durch deren Synthese geschaffenen typischen klanglichen Bewegungen ausdrückt, am vor dergründigsten aber in den treffenden und kühnen Klangfarbenkombinationen des groß besetzten Orchesterapparates. Die Fabel des Balletts folgt einem russischen Märchen vom Zarensohn Iwan, der im Zauber garten des Menschenfressers Kastschej dem Feuervogel begegnet, ihn einfängt und gegen Überlassung einer Feder wieder freiläßt. Ge fangene Prinzessinnen tanzen im mondbeschie nenen Park, Iwan verliebt sich in eine von ih nen, der er trotz aller Warnungen ins Schloß folgen will. Der Zauberer Kastschej tritt ihm entgegen, um ihn in Stein zu verwandeln. Der durch die Feder herbeigerufene Feuervogel ver rät dem Zarewitsch das Lebensgeheimnis des Zauberers. Iwan tötet ihn und befreit dadurch alle Gefangenen und Verzauberten. Die ge liebte Prinzessin ist eine Zarentochter, mit der er sich verlobt. Strawinsky baut die musikalische Dramaturgie des „Feuervogel" auf der für die russische epi sche Oper typischen Gegenüberstellung kon trastierender Intonationssphären auf: der Sphäre des finsteren höllischen Reiches des Kastschej, der märchenhaft-orientalischen des Feuervogels und der russisch-volksliedhaften des Iwan-Zarewitsch und der Prinzessinnen. Die Gegensätzlichkeit der leitmotivartigen The men wird vor allem durch ihre Harmonik und Klangfärbung erreicht. So sind für Kastschejs Reich Chromatik, verminderte Klänge und Pen tatonik (Aufbau melodischer Wendungen auf der Fünftonskala) charakteristisch, an Klang farben die tiefen Holzbläser und das „schwere" Blech. Die orientalische Tonwelt des Feuervo gels äußert sich in kleinen Sekundschritten und parallelen Quintbewegungen, übermäßigen Dreiklängen, in Ganzton- und Tritonusklängen (Tritonus = Intervall, das drei ganze Töne um faßt) und Nonenakkorden; im Orchester wer den besonders Holzbläser, Celesta, Harfe, Xy lophon und Streichertremolo eingesetzt. Iwan und die Prinzessinnen sind durch die Diatonik des russischen Volksliedes charakterisiert. Na türlich stehen die verschiedenen Klangsphären nicht nur benachbart nebeneinander, sondern färben auch gleichsam aufeinander ab.