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5. AUSSERORDENTLICHES KONZERT Festsaal des Kulturpalastes Dresden Mittwoch, den 31. Dezember 1986, 19.30 Uhr Donnerstag, den 1. Januar 1987, 19.30 Uhr Freitag, den 2. Januar 1987, 19.30 Uhr dresdner oNllnairmoornte« Dirigent: Solisten: Günter Joseck, Berlin £_) O p Q <■>. pj Qj O Ute Selbig, Dresden, Sopran (31. 12.) Hans-Otto Rogge, Berlin, Tenor (31. 12.) Regina Werner, Leipzig, Sopran (1. und 2. 1.) Harald Neukirch, Berlin, Tenor (1. und 2. 1.) Jacques Offenbach 1819-1880 Joseph Lanner 1801-1843 Johann Strauß 1825-1899 Johann Strauß Ouvertüre zu „Orpheus in der Unterwelt" Hofball-Tänze op. 161 , . Walzer 31. <12 <861 „Spiel ich die Unschuld vom Lande" aus ^"Moln HSTJ „Die Fledermaus" „Als flotter Geist" aus Marquis” „Der Zigeunerbaron" Joseph Hellmesberger 1855-1907 Carl Zeller 1842-1898 Franz von Suppe 1819-1895 Johann Strauß Ball-Szene „Schenkt man sich Rosen in Tirol" aus „Der Vogelhändler" PAUSE Ouvertüre zu „Dichter und Bauer" „Komm in die Gondel" aus „Eine Nacht in Venedig" GÜNTER JOSECK, 1934 in Leipzig geboren, erhielt schon als Kind eine intensive musikalische Ausbildung (Violine und Klavier) und gehörte als Sängerknabe verschiedenen Chören seiner Heimatstadt an. So folg te nach dem Abitur die Ausbildung an der Leipziger Hochschule für Musik „Felix Mendelssohn Bartholdy" im Fach Dirigieren. Nach dem ersten Engagement am Kreistheater Borna wirkte Günter Joseck 6 Jahre als Chefdirigent des Radio-DDR-Unterhaltungsorchesters l^^Kig, von 1967 an für 15 Jahre als Leiter des Or- c^^Brs der IG Wismut Kari-Marx-Stadt, und mit der Spielzeit 1982/83 wurde er zum Musikalischen Ober leiter des Metropol-Theaters Berlin berufen. 1980 er hielt er den Generalmusikdirektor-Titel, ebenso fal len in die lange Zeit seiner Karl-Marx-Städter Tätig keit die Auszeichnungen mit dem Kultur- und Kunst preis der SDAG Wismut und dem Kulturpreis „Kurt Barthel" des Bezirkes. Gastdirigate führten Günter Joseck bisher nach Moskau und Prag; auch von Funk, Fernsehen und Schallplatte wird er ständig als Gast verpflichtet. Amilcare Ponchielli 1834-1886 „Tanz der Stunden" aus „La Gioconda" Ballettmusik Johann Strauß Emil Waldteufel 1837-1915 „Draußen in Sievering" aus „Die Tänzerin Fanny Elßler" „Die Schlittschuhläufer" op. 183 Wa Izer Johann Strauß Julius Fucik 1872-1916 „Wer uns getraut" aus „Der Zigeunerbaron" Florentiner Marsch op. 214 „J’accuse — ich klage an!" ruft eine Stimme aus der Vergangenheit. Zola, der große Schrift steller und berühmte Publizist, spricht zu uns! Seine Worte sind dieselben, mit denen er im berüchtigten Dreyfusprozeß für die verletzte Gerechtigkeit eintrat, Welches gesellschaftliche Geschwür mag er jetzt aufstechen wollen? Wen oder was klagt er so leidenschaftlich an? Es ist fast unglaublich: nicht irgendeine Ge waltherrschaft, keine vornehmen Herren, die ihre Macht mißbrauchen, nicht einmal gewöhn liche Hochstapler, sondern ein anscheinend völlig unschuldiges Wesen mit lächelndem Antlitz, graziösen Bewegungen und tänzeri schem Gang, das „Stiefkind der Musen": die Operette. Sie klagt er an, tatsächlich! Nur daß er die Operette nicht für unschuldig hält, sondern sie als „öffentlichen Schädling" brandmarkt: „Die Operette umgibt den Stumpfsinn mit einem Glorienschein, sie verleitet zur Sitten losigkeit, und sie entfernt das Publikum auf verbrecherische Weise von der Kunst. Deshalb muß man sie am Halse fassen hinter dem Souffleurkasten und erwürgen wie ein bösar tiges Tier." Der große Fürsprecher der Gerechtigkeit for dert also das Todesurteil für die Operette; aber die Operette hat es überlebt. Und wäh rend jenes andere „J’accuse" die gesamte gebildete Welt gegen ein unmenschliches Ur teil auf die Beine brachte, fand Zolas Anschul digung gegen die leichte Musikkunst kein gro ßes Echo. Seine Anklage ist heute nur noch denen bekannt, die die Geschichte der Ope rette erforschen — als eine museale Merkwür digkeit, als ein in Spiritus verwahrtes kultur historisches Kuriosum. Schon früher hatten viele andere versucht, dem Stiefkind der Musen „wie einem schäd lichen Tier" den Hals umzudrehen. Wenn wir der Sache auf den Grund gehen, sehen wir, daß das ungezogene Musenkind immer wie der, in jeder Epoche, auf die Anklagebank zitiert wurde. Es stand im Mittelpunkt einer ganzen Serie von Hexenprozessen. Das Pu blikum versuchte stets, es zu schützen, und harrte voller kämpferischer Zuneigung neben ihm aus - aber gerade das galt zu allen Zei ten als erschwerender Umstand, schien doch gerade diese Schwärmerei zu beweisen, daß das Musenkind die Seelen verhexte, ja gera dezu unterjochte. „Darum erst recht mit ihm auf den Scheiterhaufen!" Warum löst das ungezogene Musenkind von der Vergangenheit bis auf den heutigen Tag so extreme Emotionen aus? Warum bestreiten ihm seine Gegner die Existenzberechtigung, und warum streiten mit nahezu groteskem Fa natismus diejenigen für sein Weiterleben, die es lieben? Hören wir noch einige Ankläger! Janin, der berühmte und berüchtigte Kritiker Offenbachs, bezeichnete die Operette als fre chen Heiligtumsschänder. 1910 wurde diese so fieberhaft umstrittene Kunstgattung in einer Vorlesungsreihe an der Wiener Universität als Pest tituliert. Man forderte behördliche M< nahmen, die ihre Ausbreitung verhinc, sollten. Fischer, der namhafte Musikhistoriker, nannte sie „Canaillenkunst" . . . Einen Moment! Liegt hier vielleicht der Hund begraben? Ist die Operette nicht vielleicht des halb so vielen (hauptsächlich den ästhetischen) Gemütern verdächtig, mehr als verdächtig, weil sie so unvergleichlich populär ist? Viel leicht sollten wir uns nach den Anklägern auch einen Entlastungszeugen anhören. „Was für eine Dummheit, zu behaupten, sie lenke die Aufmerksamkeit der Werktätigen von der Arbeit ab und verleite sie zum Nichtstun! Im Gegenteil! Der Mensch kann nicht ununter brochen arbeiten; er muß auch ausruhen und sich zerstreuen. Danach geht die Arbeit um so besser, um so fröhlicher von der Hand. Die Menschen treten mit einem Lächeln auf dem Gesicht aus dem Theater und gehen dann er frischt ihren Angelegenheiten nach.” Außerdem sei „diese Kunstgattung bei jedermann be liebt". (Nur gibt das nicht jedermann zu.) Und „ist es denn möglich, daß sich die ganze Welt in ihrem Urteil irrt?". Wir sehen geradezu die verdrießliche Mil unserer Leser. „Abgedroschene Plattheiten denken sie, „damit argumentiert jeder beque me Kulturobmann, der lieber Karten für die „Csärdäsfürstin" verkauft als beispielsweise für die „Götterdämmerung". Abgedroschene Plattheiten. Nur eines über rascht: Der Zeuge lebt und argumentiert nicht heute und hier. Die „Verteidigungsrede", aus der wir einige Zeilen zitierten, wurde zu Be ginn des 6. Jahrhunderts im Tempel des Dio nysos zu Gaza vor einem nach Tausenden zählenden Auditorium gehalten. Der Redner hieß Choritius und war ein hochangesehener Philosoph, und die Kunstgattung, die er ver-