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fert, daß Webern das Grundprinzip der Sona tenform auf den Kontrast zwischen Fest und Locker zurückführte, und das fand ich über zeugend. Ich meinte, daß jetzt dieser Kontrast zwischen Fest und Locker auch möglich wäre, wenn man zum Beispiel Tonales und Atonales oder Tonales und Serielles gegenüberstellen würde. Dann wäre in diesem Falle das Tonale gerade das Lockere und das Serielle das Fe ste. So habe ich es versucht, und es schien mir, als würde damit ein bestimmter Zustand der Musikgeschichte auf neuer Ebene wieder holt (vielleicht kann das Zusammenstößen zweier Stile so empfunden werden wie das Zusammenspiel zweier Themen in der Sona- ^■orm) . . . Mein ganzes Dasein als Kompo- ^Rt ist ein Doppelleben: Ich arbeite unge fähr sechs, sieben Monate im Jahr für den Film, dann bleiben noch einige Monate .für mich' übrig. Und dieses geteilte musikalische Bewußtsein, das ich jetzt dadurch habe, die ses Zusammenstößen verschiedener musika lischer Ebenen, das in mir immer bleibt, emp finde ich als störenden, vielleicht aber auch als fördernden Umstand in meiner Entwick lung. Denn irgendwie fehlt dem Menschen — durch die Fülle der ständigen musikalischen Eindrücke — ja auch allgemein ein einheitli ches musikalisches Bewußtsein. Man kann Radio hören, und oben hat jemand den Fern sehapparat laut aufgedreht, nebenan wird Beat-Musik gespielt; man ist sozusagen die Ives-Atmosphäre schon gewöhnt. Und darum denke ich mir, daß es vielleicht meine Aufgabe ist, dieses ganze stilistische Kaleidoskop fest zuhalten, um so etwas von unserer Wirklich keit widerspiegeln zu können." (Aus einem In terview mit Alfred Schnittke 1977.) Das Streben nach einem Stil, in dem grund sätzlich alles vorkommen kann unter der Vor aussetzung, etwas Einheitliches zu schaffen, stimmt die letzten Kompositionen Schnittkes. vereinnahmt alle Stilrichtungen der Musik geschichte, wobei jedoch der jeweilige Stil- Gestus durch Kontrastwirkungen verfremdet erscheint und das gesamte Werk ein eigenes Gesicht erhält. Diese Polystilistik, in der die verschiedenen Stile gewissermaßen als Tasten einer großen Klaviatur vorkommen, spiegelt sich auch in dem 1984 vom Berliner Philhar monischen Orchester unter Christoph von Doh- ndny und mit Gidon Kremer als Solist urauf geführten Konzert Nr. 4 für Violine und Orchester wider. Schnittke spielt hier diese Klaviatur virtuos und schockierend: Unvermittelt schroff stehen sich Mozartscher Wohllaut, romantische „Plüschmelodien" (Schnittke) und dissonante Klänge gegen über; Felder tonaler Einsprengsel werden im mer wieder weggewischt oder überwuchert. Dem entspricht auch die Instrumentation, in der samtweicher Bläsersatz unvermittelt in diffuses Schlagzeug-Flackern, dieses wieder in bedrohlich grollende Posaunenakkorde Um schlägen usw. Dabei ist das groß besetzte Orchester stets sparsam verwendet, bleibt im Zusammenspiel mit dem Solisten die Solo stimme klar hörbar. Die vier Sätze des Konzertes werden durch zwei historisch anmutende Melodien verkettet, eben jene „schönen Plüschmelodien", deren eine sich durch das ganze Stück zieht, die an dere im 3. Satz auftaucht. Unecht sind sie ge meint; der Komponist selbst bezeichnet sie als „geschminkte Leichen". Ihrer „Romantik" stellt er ein Vierton-Motiv gegenüber, eben falls allen Sätzen übergeordnet, hinter dem sich Monogramme befreundeter Künstler ver stecken und das seinerseits in die Atonalität führt. Röhrenglocken intonieren das Vierton- Motiv zu Beginn, eine tonale Bläserharmonik übernimmt es, bis es in einem ersten Höhe punkt in eine komplexe, grundtonlose Chro matik fällt. Dämonischen Charakter nimmt die Musik an, wenn über Arpeggien der Solo- Violine und in einem gewaltigen Orchester- Crescendo der Zustand entfesselter Gewalten erreicht wird, in dem der Solist in einer Art „Cadenza visuale" nur noch scheinbar, also tonlos „spielt". Lyrische Passagen wechseln auch weiter mit dramatischen Ausuferungen. Glockenspiel, Cembalo und verstimmtes Kla vier werden einbezogen. Im gespenstischen Ende blitzt das Vierton-Motiv noch einmal in höchster Höhe auf. Wenn unter den Schauspiel-Musiken Jean Sibelius' die zu Shakespeares „Sturm" (1925) die bedeutungsvollste und musikalisch interessanteste ist, so ist die populärste zwei fellos die zu Arvid Järnefelts „Kuolema" (Der Tod), genauer gesagt, die Valse triste aus dieser Schauspielmusik (1903/04). Frei lich ist der Ruhm des Stückes durch miserable Salonorchester-Bearbeitungen, an welchen nur der Verleger Reichtum erwarb, etwas anrüchig geworden, doch in seiner originalen Gestalt erweist sich dieser „traurige Walzer", der im Schauspiel eine Sterbeszene begleitet — die Tanz-Visionen einer Sterbenden ausdrückt —, als ein auf seine Weise geradezu genialer Wurf. (Erich Brüll 1972.) Richard Strauss mied in seiner frühen Schaffensperiode zunächst die Opernkomposi tion, mit der er sich später Weltgeltung ver schaffte, und widmete sich mit großer Hinga be — in der Nachfolge Franz Liszts, doch bald über diesen hinauswachsend — der sinfoni schen Dichtung. Straussens sinfonischen Dich tungen liegen stets „konkrete Programme" zu grunde: „Aus Italien", „Don Juan", „Mac beth", „Tod und Verklärung", „Till Eulenspie gel", „Also sprach Zarathustra", „Don Qui chote", „Ein Heldenleben", „Sinfonia dome- stica", „Eine Alpensinfonie". Einen künstleri schen Höhepunkt innerhalb dieser an sich höchst ungleichwertigen Werkreihe erreichte der Komponist mit der genialen sinfonischen Dichtung Till Eulenspiegels lusti ge Streiche (nach alter Schel menweise in Rondoform) op. 28, die 1895 in Köln uraufgeführt wurde, wohl Straussens liebenswürdigstes, heiterstes und amüsantestens Stück. Mit Recht sind der geist reiche Humor, der prickelnde Witz, die Ironie, aber auch die Gefühlskraft dieser Musik so berühmt. Einmalig ist die Art, wie der Kompo nist alle Nuancen der großen Orchesterpalette in diesem musikalischen „Schelmenstück" aus nützt. Die beiden wichtigsten Motive des Werkes sind Tills gemächliche „Schelmenweis", vom Horn angestimmt, die in allerlei Verwandlun gen — je nach den Erlebnissen des „Helden" - refrainartig wiederkehrt, und ein prägnan tes, nie überhörbares Klarinettenmotiv, die „Pointe" zu jedem Abenteuer Tills. Und wer Phantasie hat, hört unschwer heraus, was Mei ster Strauss seinen Till erleben läßt: wie er das Geschirr der Marktweiber von den Hufen seines Pferdes zerschlagen läßt, wie er in Prie sterverkleidung vor dem Volke spricht, wie er sich verliebt, schmachtet und einen Korb er hält, wie er sich in „gelahrte" Disputationen einläßt und brave Wissenschaftler mit einem Gassenhauer zum Narren hält. Aber dami^Ä- ben Tills Streiche ein Ende gefunden. Voi^R- richt gebracht, wird er nach viermaliger Befra gung zum Tode verurteilt (Posaunen und Hör ner). Und schon wird Till am Galgen aufge knüpft (das zerflatternde Klarinettenmotiv deutet die letzten kläglichen Seufzer Tills an). Das Nachspiel, das den volksliedhaften Ton des Beginns wieder aufnimmt, vermittelt die trostreiche Gewißheit, daß der närrische Geist Till Eulenspiegels unsterblich ist und in den Erzählungen des Volkes weiterleben wird. (Prof. Dr. Dieter Härtwig) VORANKÜNDIGUNG: ACHTUNG! Vorverlegung des 9. PHILHARMONISCHEN KONZERTES, A 2, vom 27. auf den 25. April 1936! Sonnabend, den 12. April 1986, 20.00 Uhr (Anrecht A 2) Sonntag, den 13. April 1986, 20.00 Uhr (Anrecht A 1) Festsaol des Kulturpalastes Dresden Einführungsvorträge jeweils 19.00 Uhr Prof. Dr. habil. Dieter Härtwig 8. PHILHARMONISCHES KONZERT Dirigent: Libor Pesek, CSSR Solist: Aci Bertoncelj, SFR Jugoslawien, Klavier Werke von Mozart. Gershwin und Suk Programmblätter der Dresdner Philharmonie Spielzeit 1985 86 Redaktion: Dipl.-Phil. Sabine Grosse Fotos: Künstleragentur (Oleg Kryssa). M. Creutziger (Horia Andreescu) Die Einführung zu Haydns Sinfonie Nr. 86 ist dem Text zur Schallplatte Eterna Nr. 826 346 entnommen. Der Ein führung zu Schnittkes Violinkonzert Nr. 4 liegen die UE-Musikvorschau Nr. 72 84 und 73 84 sowie das Pro grammheft der Uraufführung zugrunde. Das Interview mit dem Komponisten ist in der Dokumentation „50 sowjetische Komponisten" von Hannelore Gerlach ob gedruckt. Druck: GGV, BT Heidenau 111-25-16 2,85 JtG 009-11-86 EVP -.25 M 7. PHILHARMONISCHES KONZERT 1985/86