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risch vorgeprägtem Material, von assozia tionsintensiven Intonationen, von konventio nellen Genrebezügen oder Modellzitaten, poetischen wie optischen Anregungen ausgeht, um das Geformte zu motivieren und dem Hö rer konstruktive Anhaltspunkte zu vermitteln." Zu seinem im Dezember 1983 vollendeten neuen Orchesterwerk „Dona nobis pa - cem", das heute uraufgeführt wird, äußer te Friedrich Schenker: Der Auftrag, für Dres den und die Dresdner Philharmonie, das Or chester, mit dem mein aufregender Beginn als Sinfoniker stattfand, aus einem so schmerzlichen Anlaß, aber auch als Menete kel, eine Musik zu schreiben, ist mir zu erfül len nicht leicht gefallen. Das Thema „Dona nobis pacem" hatte aber schon eine Kammermusik, ein Duo für Oboe und Violoncello erbracht — mir schien es an gebracht und gerechtfertigt (wenn ich an Ge pflogenheiten von Malern und Grafikern denke), diese Komposition in ein größeres Format, in eine sinfonische Version auszu weiten. Der Schluß meiner Orchesterkomposition mit dem Titel „Dona nobis pacem", nicht das „Gott-schenke-uns-Frieden", sondern „Der- Mensch-schenke-sich-Frieden", läßt zwei Cho räle erscheinen, die im Zusammenhang mit dem Anlaß der Komposition — Dresden, her ausfordernd wirken, überdenkt man auch de ren Texte: „Vom Himmel hoch, da komm ich her", was ist 1945 von da gekommen, was könnte 1985 . . .?, oder der andere „Es ist genug! — Herr, wenn es Dir gefällt, so spann mich doch aus", das ist doch in sehr ver schiedene Richtungen deutbar?! Noch eine Reihe anderer Zeichen, belastet mit ihrem unverwechselbaren Dokumentarcharakter aus einer „Zeit,-laßt-sie-nie-wieder-kommen!" sind wohl unüberhörbar. Auch Mozart, auf sei nen kleinen Kanon „Dona nobis pacem“ wird angespielt, und Hölderlin hatten ihre Probleme mit dem Frieden damals. Aus Höl derlins Ode „Der Frieden" (ein Motto, das mir erst nach der Komposition zufiel) einige Zitate als Beigabe zur Konzeption einer Mu sik, die aus subjektivster Betroffenheit ent standen ist: W/e wenn die alten Wasser in andern Zorn, In schrecklichem, verwandelt wieder Kämen, zu reinigen, da es not war, So gährt' und wuchs und wogte von Jahr zu Jahr Rastlos und überschwemmte das bange Land Die unerhörte Schlacht, daß weit hüllt Dunkel und Blässe das Haupt der Menschen . . . Zu lang, zu lang schon treten die Sterblichen Sich gern aufs Haupt und zanken um Herrschaft sich, Den Nachbar fürchtend, und es hat auf Eigenem Boden der Mann nicht Segen . . . Bleiben im Leben, Komm du nun, du der heiligen Musen f All und der Gestirne Liebling, w Verjüngender ersehnter Friede, komm und [ gib ein ein Herz uns wieder. Aber auch meine Zweifel an Hölderlins idea listischem Schluß möchte ich nicht verschwei gen : So steht und lächelt Helios über uns Und einsam ist der Göttliche, Frohe nie, Denn ewig (?)* wohnen sie, des Äthers Blühende Sterne, die Heiligfreien. (* Fragezeichen vom Komponisten) „Offenbar ist das Bestreben der besten Dich ter und ästhetischen Schriftsteller aller Natio nen schon seit geraumer Zeit auf das allge mein Menschliche gerichtet . . . überall hört und liest man von dem Vorschreiten des Men schengeschlechts, von den weiteren Aussichten der Welt- und Menschenverhältnisse. Wie es auch im ganzen damit beschaffen sein mag, welches zu untersuchen und näher zu bestim men nicht meines Amtes ist, will ich doch von meiner Seite meine Freunde aufmerksam ma chen, daß ich überzeugt sei, es bilde sich eine allgemeine Weltliteratur, worin uns Deutschen eine ehrenvolle Rolle Vorbehalten ist." Diese Worte schrieb Johann Wolfgang von Goethe 1827, im Sterbejahr Ludwig van Beethovens, flh erübrigt sich zweifellos nachzuweisen, wie ^PFnfällig gerade der Weimarer Klassiker diese „ehrenvolle Rolle" erfüllt hat. Aber „Weltlite ratur" ist nicht nur literarisch zu begreifen, sondern auch im musikalisch-musikhistorischen Sinne. Beethoven, der große Wiener Klas siker, schrieb kurz vor der Vollendung der Neunten Sinfonie, im April 1823: „. . . so hoffe ich endlich zu schreiben, was mir und der Kunst das Höchste ist — Faust". In der Tat: Kaum ist das eindeutiger zu cha rakterisieren, was man den deutschen Beitrag zur Weltliteratur schlechthin nennen möchte, als mit dem Hinweis auf Goethes „Faust“ und Beethovens „Neunte". Zwei Ebenbürtige schu fen im Bestreben der „Besten" weltumspan nende Botschaften, die einzigartigsten Doku mente wohl aus der deutschen klassischen Kulturperiode. Hat Goethe in seinem „Faust", der ihn fast 60 Jahre beschäftigt hat, seine und seiner ganzen Epoche Weltanschauung niedergelegt, so ist auch Beethovens „Neunte" Ausdruck seiner „Weisheit und Philosophie“, seine weltanschaulich-künstlerische Offenba rung. Wie Goethe hat Beethoven jahrelang um die ^ndgültige Gestaltung seines größten Werkes ^Bungen. Bereits der 23jährige Komponist ^jg sich 1793 mit dem Plan, Schillers Ode „An die Freude" zu komponieren, ohne daß er dabei an das Chorfinale einer Sinfonie ge dacht hätte. In einem Skizzenbuch aus dem Jahre 1798 findet sich ein Entwurf für die Text worte „. . . muß ein lieber Vater wohnen". Etwas später vertonte Beethoven das Goethe- Gedicht „Kleine Blumen, kleine Blätter" auf eine Melodie, die im wesentlichen schon das „Freudenthema" der neunten Sinfonie vorweg nahm. 1812 bestand die Absicht, eine Fest ouvertüre mit Chorgesang über Schillers Freu- den-Ode zu schaffen. Die ersten Skizzen zur neunten Sinfonie stammen aus dem Jahre 1817. Aus dem Jahre darauf informiert eine Tagebucheintragung über den Plan einer Sin fonie mit chorischem Finale. Erst 1822 begann die berühmte Melodie auf die Textworte „Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium" endgültige Gestalt anzunehmen. Langsam reifte nun auch die Chor-Lösung des Finales, das — im Februar 1824 vollendet — schließlich den monumentalen Bau der Sinfo nie krönte, einer Sinfonie „auf die Art" wie schon Beethovens Klavierfantasie mit Chor, „jedoch weit größer gehalten als selbe". Beet hovens Ringen um die neunte Sinfonie erklärt auch die sinfonielose, elfjährige Pause, die dem Abschluß der achten Sinfonie im Herbst 1812 folgte. Doch zurück zur Werkgeschichte: im Grunde nämlich vereinigte die „Neunte" auch noch den Plan einer zehnten Sinfonie, von der be reits Skizzen vorlagen. Das Finale hatte sich Beethoven ursprünglich rein instrumental vor gestellt. Das dafür vorgesehene Thema findet sich im a-Moll-Streichquartett op. 132, auch an eine Fuge über das variierte Thema vom zwei ten Satz war gedacht. Man sieht also, daß die Idee der neunten Sinfonie für ihren Schöp fer nicht von vornherein feststand, sondern daß sie erst während der geistigen und for malen Auseinandersetzungen reifte und Ge stalt annahm. Da Worte die Aussage der Mu sik konkretisieren, ist diese Idee der „Neun ten" untrennbar mit den Schillerschen Versen verbunden, deren Auswahl wiederum bezeich nendes Licht auf die Persönlichkeit des Kom ponisten, auf dessen humanistische, ethische und religiöse Anschauungen wirft. Die sinfonische Gestaltung des Chorfinales, die Verbindung der vorausgehenden drei in strumentalen Sätze mit dem abschließenden Vokalteil war ein mühevoller Prozeß. Das Re zitativ sollte ursprünglich mit den Textworten „Heute ist ein feierlicher Tag ... dieser sei gefeiert mit Gesang" beginnen. Dann dachte Beethoven an die Worte: „Laßt uns das Lied des unsterblichen Schiller singen!" Endlich wurde die textliche Lösung des Baß-Solos ge funden: „O Freunde, nicht diese Töne, son dern laßt uns angenehmere anstimmen und freudenvollere". Als Beethoven die „Neunte" vollendet hatte, herrschte in Österreich, naturgemäß beson ders stark in Wien, noch immer die bedrük- kende politische Atmosphäre, der „verzweif lungsvolle Zustand" nach dem Wiener Kon greß. Seit der achten Sinfonie waren für Beet hoven elf Jahre bitterer Enttäuschung persön-