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seinen melodischen Erfindungsreichtum, seine Frische und seine meister hafte Gestaltung beeindrucken und gibt durch die echt geigerische Behand lung des Soloparts dem Solisten in reichem Maße Gelegenheit, sein< Virtuosität in vielseitiger Weise zu entfalten. Johannes Brahms, zu dessen Lieblingskompositionen das Konzert zählte und der es immer wieder hören wollte, fand -■ freilich in übergroßer Bescheidenheit dem eigenen Schaffen gegenüber — in einem Brief an Clara Schumann folgende schöne Worte für dieses Werk: „Das a-Moll-Konzert von Violti ist meine ganz besondere Schwärmerei . . . Es ist ein Frachtstück von einer merkwürdigen Freiheit in der Erfindung; als ob er phantasiere, klingt es, und ist alles meisterhaft gedacht und gemacht . . . Daß die Leute im allgemeinen die allerbesten Sachen, also Mozartsche Konzerte und obiges von Viotti, nicht verstehen und. nicht respektieren — davon lebt unsereiner und kommt zum Ruhm. Wenn die Leute eine Ahnung hätten, daß sie von uns tropfenweise das selbe kriegen, was sie dort nach Herzenslust trinken können!“ Mit einer ausgedehnten Orchestereinleitung (Moderato) beginnt der erste Satz des Konzertes, dann bringt der Solist, nur akkordisch begleitet, das wirkungsvolle Hauptthema des Satzes, dem ein schlichteres Seitenthema gegenübecgestellt wurde. Eine große Bedeutung besitzt in diesem Satz, dessen Durchführung in der Aufeinanderfolge zweier mehr gesanglicher und eines figurativen Teiles besieht, der ständige Wechsel zwischen Moll und Dur. In der Reprise wird das Hauptthema kurz nochmals gebracht, zunächst vcm Orchester (durch kleine Läufe des Solisten unterbrechen), dann vcm Scloinstrument. Virtuos wird der Satz mit reichlicher Figuration des Soloparts beendet. — Den wertvollsten Satz des Werkes bildet das folgende Adagio, das sidi durch eine einfache, edle und ausdrucksvolle Themati!: auszeichne': und nahezu Beethovenschen Geist atmet. Das Solo instrument ergeht sich in mannigfachen Umspielungen des kantablen Hauptthemas. — Virtuos-elegant ist der Charakter des Finalsatzes (Agitato assai), der in Rondoform angelegt, wurde und durch eine besonders ein fallsreiche Instrumentation fesselt. In zahlreichen brillanten Episoden und einer großen, von Viotti auskomponierten Kadenz (mit Orchester begleitung) darf der Solist hier nochmals sein ganzes virtuoses Können zur Geltung bringen. „Ich glaube, daß alles, was in unserem geistigen und kulturellen Leben wertvoll ist, in unserem Heimatboden wurzelt; aber dieses Leben kann sich nur in einer Atmosphäre der Freundschaft und Verbundenheit mit anderen Nationen entwickeln und Früchte tragen. Mehr noch, unsere nationale Kunst darf kein ruhendes Gewässer sein, sondern sie muß ihren Teil beitragen zu dem großen Strem, der durch die Jahrhunderte geflossen ist. In diesem Strom müssen wir alle unsere eigene Strömung bewahren. Wir dürfen nicht gänzlich zu einem ununterscheidbaren Teil des allgemeinen Flusses werden“, schrieb der vor sechs Jahren fast 86jährig verstorbene englische Komponist Ralph Vaughan Wil liams 1942 in einem Essay. Die hier manifestierten Grundsätze fanden ihren Ausdruck auch im schöpferischen Werk des Komponisten, der nach Musikstudien bei englischen Kompositionslehrern (Charles Wood, Parry und Stanford) auch für kurze Zeit Kompositionsunterricht bei Max Bruch und Maurice Ravel nahm und seit dem ersten Weltkrieg eine langjährige Lehrtätigkeit am Royal College of Music in London ausübte. Vaughan Williams strebte während seines ganzen langen Lebens, bis ins hohe Alter aktiv und von künstlerischer Kraft erfüllt, danach, die englische Musik von fremden Einflüssen zu lösen, ihr die glanzvolle Stellung zurückzu erobern, die sie einstmals in Europa besaß; als Erwecker des National bewußtseins in der englischen Musik wurde er zum Hauptvertreter einer englischen nationalen Schule und schließlich zum bedeutenden Altmeister der neuen Komponistengeneration Englands. In diesem Sinne bildete die englische Volksmusik die Basis des Schaffens des Komponisten, der sich seit seiner Jugend intensiv mit historischen Studien der Volks- und Kirchenmusik seiner Heimat (besonders des 16. Jahrhunderts) beschäftigt hatte. Trotz dieser festen Verwurzelung fand Vaughan Williams in seiner Musik — nach Überwindung von impressionistischen Einflüssen in einigen frühen Werken — zu einer eigengeprägten, durchaus gegenwartsnahen Tonsprache von übernationaler Kraft der Aussage. Unter den durch eine erstaunliche Vielseitigkeit gekennzeichneten, außerordentlich zahlreichen Kompositionen Vaughan Williams’ ragen seine in einem Zeitraum von fast fünfzig Jahren entstandenen neun Sinfonien als Dokumente ernsthaftesten, verantwortungsbewußten künstlerischen Ringens hervor. Außer den sinfo nischen Werken schrieb der Komponist fünf Opern, eine große Anzahl von Chorwerken und Liedern, Solistenkonzerte (u. a. für Violine, Klavier und Oboe), weitere Orchesterwerke (darunter die berühmte „Fantasie über ein Thema von Thomas Tallis“), Kammermusikwerke sowie Film- und Ballettmusiken. Seine 5. Sinfonie in D-Dur, die auch unter dem Beinamen „Vermächtnis der Schönheit“ bekannt wurde, komponierte Vaughan Williams im Jahre 1943. Das Werk wurde Jean Sibelius gewidmet — „without permis- sion“ (ohne Erlaubnis), wie in der Widmung zu lesen ist. Zu den klarsten, ausgeglichensten, für den Personalstil des Komponisten charakteristischsten und gelungensten Schöpfungen Vaughan Williams’ gehörend, ist die D-Dur-Sinfonie ein Werk, das von hoher künstlerischer Reife und starker schöpferischer Phantasie zeugt; der englische Komponist Alan Bush nannte sie geradezu eine „klassische Sinfonie des englischen nationalen Stils im 20. Jahrhundert“. In ihrem thematischen Material steht die Sin fonie — namentlich im dritten Satz — in einer gewissen Beziehung zu Vaughan Williams' Oper „The Pilgrim’s Progress“ (Die Pilgerfahrt, London 1951) nach der Allegorie von John Bunyan. Vom Ruf zweier Hörner in D-Dur über einem Orgelpunkt auf C wird der erste, „Prcludio“ überschriebene Satz (Moderato — Allegro — Moderato) eingeleitet, dessen Aufbau nicht nach dem Muster der klassischen Sonaten form erfolgte. Sowohl das Hornmotiv, das übrigens auch wieder am Ende des Satzes erklingt, als auch Teile des folgenden Hauptthemas werden durch verschiedene Tonarten (zum Teil Kirchentonarten, wie mixolydisch und phrygisch) geführt. Der Allegroteil des Satzes bringt lebhaftere Be wegung (Achtelfiguren der Streicher); im abschließenden Teil wird in einer kurzen Wiederholung erneut die Thematik des Beginns zu Gehör gebracht. Rondoform besitzt der zweite Satz, ein kraftvoll-eigenwilliges, rhythmisch agiles Scherzo, in dem gleichfalls wieder kirchentonartliche Melodien eng lischer Intonation (äolisch, dorisch) verarbeitet wurden. — Rhapsodischen Charakter weist die folgende Romanze, das Kernstück der Sinfonie, auf. Nachdenklich-grüblerisch gibt sich dieser- lyrische langsame Satz, in dessen Thematik dem Englisch Horn eine bedeutsame Rolle zugewiesen 'wurde. Energie und Optimismus strömt endlich das Finale, eine (nicht vollkom men streng durchgeführte) Passacaglia, aus. Das siebentaktige, prägnante Hauptthema der Violoncelli wird zunächst zehnmal wiederholt. Nach einer Unterbrechung wird es wieder aufgenommen und mit großer instru mentaler und kontrapunktischer Meisterschaft gewaltig gesteigert. Der Satz endet mit einer ruhigen Coda, nachdem auch das Hornmotiv des An fangssatzes noch einmal erklungen ist. , . Urte Hartwig