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ZUR EINFÜHRUNG Im 4. Zyklus-Konzert „Musik der Nationen“ erklingen Kompositionen von Vertretern zweier Länder, deren Beiträge zur musikalischen Weltliteratur der letzten Jahrhunderte schon quantitativ recht unterschiedlich gewesen sind. Während Italien durch eine ungemein große Anzahl berühmter Komponisten seinem Namen als „Musikland“ in fast allen Epochen und auf den verschiedensten musikalischen Gebieten stets neuen Glanz geben konnte, gelang es England — nach musikalischen Höhepunkten im 16. und 17. Jahrhundert — eigentlich erst in der Gegenwart, seit den letzten Jahr zehnten des 19. Jahrhunderts, wieder, durch bedeutende eigene Kompo nisten Einfluß auf das internationale Musikleben zu gewinnen. Die neue Musik Italiens, die in Gian Francesco Malipiero, Ildebrando blicken kann, wird heute hauptsächlich durch Luigi Dallapiccola (ge boren 1904), Luigi Nono (geboren 1926), Mario Peragallo (geboren 1910) und Goffredo Petrassi vertreten. Petrassi, 1904 in Zagarolo in der römischen Campagna geboren, studierte von 1928 bis 1932 Komposition bei Alessandro Bustini, nachdem er vorher in einer Musikalienhandlung gearbeitet und sich nebenberuflich bereits mit musikalischen Studien be schäftigt hatte. 1932 unterzog er sich der Abschlußprüfung in Komposition und Orgelspiel am Konservatorium Santa Cecilia in Rom und errang in diesem Jahr mit seiner Partita für Orchester, die preisgekrönt wurde, bereits einen ersten Kompositionserfolg. Von 1937 bis 1940 war Petrassi als Intendant des Teatro la Fenice in Venedig tätig, seit 1939 unterrichtet er Komposition am Konservatorium Santa Cecilia in Rom. Daneben wirkte Petrassi von 1947 bis 1950 als künstlerischer Leiter der Accademia Filar- monica Romana und von 1954 bis 1956 als Präsident der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik. Petrassi, der unzweifelhaft zu den bedeutendsten Komponisten seiner Generation gehört, begann in seinem kompositorischen Schaffen zunächst fast ausschließlich mit Instrumentalwerken, die eine starke Neigung zum Neoklassizismus aufwiesen und u. a. Casella und Hindemith als Vorbilder erkennen ließen. Es folgten ab 1934 eine Reihe von Vokalkompositionen (hauptsächlich religiöse Chorwerke), so der 9. Psalm für Chor, Streicher. Blechbläser, Pauken und zwei Klaviere, ein Magnificat für Koloratur sopran, gemischten Chor und Orchester, der Coro di morti (Totenchor), in denen der Komponist Elemente der italienischen Renaissance-Polyphonie, aber auch stilistische Einflüsse Strawinskys verarbeitete. In einem dritten Entwicklungsabschnitt wandte sich der Komponist auch dem Schreiben von Bühnenwerken zu: er schuf u. a. die Opern „II Cordovano“ (Mailand 1949, nach Cervantes) und „La morte dell’aria“ (Rom 1950) sowie Ballette. Daneben entstanden weiterhin zahlreiche Orchester- und Kammermusik werke in verschiedenartigen Besetzungen. Petrassi, der in Kompositionen der letzten Jahre häufig auch Elemente der Zwölftontechnik aufgriff, be wahrte sich jedoch stets eine ganz persönliche und originelle, vor allem durch die Neigung zu Kantabilität, differenzierter Rhythmik und klarer architektonischer Gliederung bestimmte musikalische Sprache. Das 1934 geschriebene Konzert für Orchester Nr. 1, aus der ersten Schaffensperiode des Komponisten stammend, steht am Anfang einer Reihe von bis jetzt insgesamt sechs Orchesterkonzerten aus den Jahren 1934 bis 1957. Das in drei Sätze gegliederte Werk lehnt sich in seiner stilistischen Haltung an die konzertante Instrumentalmusik italienischer Komponisten des 18. Jahrhunderts an und zeigt die für diese Art Musik typischen Gegenüberstellungen verschiedener Instrumentalgruppen. Die Komposition wurde aus einer musikalischen Keimzelle heraus entwickelt, die das Intervall einer kleinen None (g — as) bildet; dieses Intervall er scheint an jedem Satzanfang. Anläßlich einer Einführung in sein Orchesterkonzert Nr. 2 bemerkte Petrassi, daß es ihm in den beiden ersten Werken dieser Gattung „in keiner Weise angebracht zu sein scheint, von dem ganzen sinfonischen Rüstzeug der klassischen Sonate zu reden, gegenüber der sich das erste und zweite Konzert eine klare Unabhängig keit bewahren, die auf absolut uneingeschränkter Freiheit der Erfindung gegründet ist.“ In kraftvoll energischer Bewegung, die lediglich durch eine langsame solislische Streicherepisode im mittleren Teil unterbrochen wird, verläuft der erste Satz des Werkes (Allegro). In Bogenform ist der gegensätzliche langsame Salz, ein Adagio, aufgebaut. Nach einer geheimnisvoll auf klingenden Streichereinleitung sind den Holzbläsern polyphone Partien anvertraut. Es kommt zu einem ausdrucksmäßigen Höhepunkt, dann läßt die Spannung wieder nach, und am Satzende erklingt erneut dis ein leitende Streicherthematik. In heiterer Grundstimmung wird das Konzei’l durch den vorwiegend rhythmisch bestimmten, musikantischen Finalsatz (Tempo di marcia) festlich-glänzend beschlossen. Ein heule kaum noch bekannter, zu seiner Zeit jedoch als Geigenvirtuose und Komponist teilweise sehr erfolgreicher musikalischer Vertreter Italiens, der allerdings die längste Zeit seines Lebens nicht in seiner Heimat verbrachte, ist der 1753 geborene Giovanni Battista V 1 o 11 i. Frühzeitig im Geigenspiel ausgebildet, trat er 1775 als Violinist in die Hof kapelle in Turin ein, unternahm ab 1780 große, aufsehenerregende Konzerttourneen durch Deutschland, Polen, Rußland, England und Frank reich und wurde wegen seines vollendeten Spieles enthusiastisch gefeiert. Des Virtuosenlebens jedoch bald überdrüssig, wurde Viotti 1782 in Paris ansässig und wirkte dort u. a. als Operndirektor der italienischen Oper. Ein wechselvolles Schicksal führte ihn dann 1792 nach London, wo er wieder konzertierte, von wo aus er aber sechs Jahre später — nach einer Reise durch Italien, die Schweiz und Deutschland —, als Agent der Revolution verdächtigt, fliehen mußte. Bis 1801 lebte er zurückgezogen in der Nahe von Hamburg, dann wieder (jetzt als Teilhaber einer Weinhandlung) in London. 1819 siedelte Viotti schließlich wieder ganz nach Paris über, nach dem er schon früher (so 1802 vor Cherubini und 1814) dort nochmals als Geigenvirtuose aufgetreten war. Als Direktor der Pariser Großen Oper versuchte er bis 1822 vergeblich, dieses damals darniederliegende Institut erneut emporzubringen. 1824 starb er während seiner letzten Reise in London. Die überaus zahlreichen Kompositionen Viottis (ei’ schuf u. a. 29 Violin konzerte, 2 Symphonies concertantes für zwei Violinen und Orchester, 21 Streichquartette, 36 Streichtrios, 51 Violinduette und 18 Violinsonaten) nahmen in der Violinliteratur einen hohen Rang ein. Seine bedeutendsten schöpferischen Leistungen sind in den größtenteils für den eigenen Bedarf komponierten Violinkonzerten zu erblicken, die — obgleich heute fast ganz vergessen oder höchstens noch zu Studienzwecken verwendet — doch auf jeden Fall eine große historische Bedeutung für die Entwicklung dieser Konzertform besitzen, eine wichtige Grundlage für das Violinkonzert des 19. Jahrhunderts darstellen und zum Beispiel auch auf Beethoven einen nicht zu unterschätzenden Einfluß ausgeübt haben. Das bekannteste der 29 Konzerte, das einzige Werk Viottis, das auch in unserer Zeit noch hin und wieder im Konzertsaal erklingt, ist das Konzert für Violine und Orchester a-Moll Nr. 22. Dieses in edler klassizistischer Haltung geschriebene Werk, das auch der berühmte Geiger Joseph Joachim besonders schätzte und häufig zum Vortrag brachte, kann noch heute durch