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In Gustav Mahler (1860-1911) haben wir eine der typischsten und zugleich eine der tragischsten Persönlichkeiten der spätromantischen, spätbürgerlichen Musikgeschichte vor uns. Nachdem er von seinen Anhängern zum Teil als ein neuer Beethoven enthusiastisch gefeiert wurde, ist das Verhältnis zu seinem Schaffen bei uns Heutigen erheblich kühler geworden. Hat schon ganz allgemein die Spätromantik eine Einbuße in ihrer Bewertung gefunden, so ist Mahlers Werk wegen der ihm innewohnenden Mängel - Langatmigkeit, ein gewisser Eklektizis mus, Maßlosigkeit - besonders harter Kritik ausgesetzt. Diese kritische Haltung zum Werk darf allerdings nicht an der faszinierenden Persönlichkeit Mahlers vorbeisehen, an seinen idea len Vorstellungen von der Kunst, seinem ethisch hochstehenden Wollen, das nur nicht immer in der künstlerischen Umsetzung die gleiche Höhe halten konnte. Vielfach sind die Gründe, die dazu führten. Bereits aus seiner Jugend hatte der aus Kalisch in Böhmen Gebürtige zum Teil schreckliche persönliche und soziale Erlebnisse mitgenommen, die sich während seines Studiums am Wiener Konservatorium noch fortsetzten. Aus diesen Erlebnissen wie aus seiner Heimat losigkeit - Mahler fühlte sich dreifach heimatlos: als Böhme unter den Österreichern, als Öster reicher unter den Deutschen und als Jude unter allen Nationen der Erde - resultiert ein tiefer Hang zur Resignation und zur Trauer. Wachen und sensiblen Sinnes, nahm er aber auch die Kräfte wahr, die in der Lage waren, die schreckliche Situation der spätbürgerlichen Gesellschaft zu ändern. So berichtet er selbst von der großen positiven Erschütterung, die er aus einer Demonstration der Wiener Arbeiterschaft gewonnen hat. Seine Träume, aus der Zerrissenheit der Zeit hinauszugelangen, waren von hohen ethischen Grundsätzen geprägt, aber eben nur Träume. Welche enormen Kräfte jedoch in ihm steckten, bewies er als Reformator der Wiener Oper. Nach einigen Stationen war Mahler 1888 Leiter der Budapester Oper geworden, wo er sieh bemühte, daß die dort gespielten Opern in der ungarischen Sprache aufgeführt wurden. 1891 wurde er Erster Kapellmeister der Hamburger Oper, 1897 schließlich wurde er zum Direktor der Wiener Hofoper ernannt. Was er hier in nimmermüder Arbeit, getragen von einem höchsten Verantwortungsbewußtscin vor dem Kunstwerk, rücksichtslos gegen Schlendrian und persönliche Eitelkeiten auftretend, geschaffen hat, gehört zu den größten Verdiensten Mahlers. Kein Wunder, daß dieser unbequeme Mann 1907 seinen Rücktritt erklären mußte. Vier Jahre noch leitete er die Metropolitan Opera und die Philharmonischen Konzerte in New York und starb 1911, wieder in Wien. In der Rastlosigkeit seiner Tätigkeiten, in denen er keine Zeit zur Ruhe und Besinnung fand, entstanden seine neun Sinfonien, etliche Lieder, zum Teil mit Orche ster („Kindertotcnlieder“, „Lieder eines fahrenden Gesellen“), und das „Lied von der Erde“, auch sie Ausdruck der Rastlosigkeit, der inneren Zerrissenheit, der Resignation, doch aber auch hin und wieder der Hoffnung auf ein besseres Leben. Nachdem Mahler in der 2., 3. und 4. Sinfonie den Orchestcrapparat noch um vokalsolistischc oder auch chorischc Mittel erweitert hatte, läßt er in der fünfsätzigen Fünften Sinfonie wieder nur das Orchester sprechen. Der erste Satz ist „Trauermarsch“ überschrieben, und sowohl das erste Thema der Trompete wie auch besonders das Hauptthema der Violinen und Violoncelli gibt dieser düsteren Trauer stimmung beredten Ausdruck. Ein aufbegehrender Teil bildet einen gewissen Gegensatz, jedoch wird die Grundhaltung der Trauer, der Resignation thematisch nicht nur in diesem Satz durch gehalten, sondern bestimmt auch den Charakter des zweiten Satzes (Stürmisch bewegt), in dem sich die Zerrissenheit und Zerklüftung in der oft bizarren Zeichnung der einzelnen Themen plastisch widerspiegelt. Immer wieder aber kehrt auch dieser Satz in seiner Grundstimmung und in der Wahl des Tempos zu den trauernden Rhythmen des Eingangssatzes zurück, damit die Verflechtung unterstreichend, die Mahler zwischen den einzelnen Sätzen vorgenommen hat. Während die ersten beiden Sätze also eine innere Einheit bilden, steht der dritte Satz, ein Scherzo, dazu in einem beruhigenden Gegensatz. In diesem Satz erweist sich auch die starke innere Beziehung, die Mahler zur österreichischen Volksmusik besaß. Ländlerweisen klingen hinein und gestalten das Bild freundlicher und ausgeglichener. Ähnlich wie bei Bruckner, erfährt das Scherzo auch bei Mahler eine bedeutende formale und inhaltliche Bereicherung und Aus dehnung. Wiederum zusammenhängend konzipiert sind die beiden Letzten Sätze des Werkes, ein Adagietto von ganz lyrischem Charakter, das in der Instrumentation nur die Harfe und das Streichorchester aufweist und voll gesanglicher Partien ist, und schließlich der letzte Satz, ein Rondo-Finale, das nach einigem Zögern anhebt und endlich die Befreiung aus den düsteren Stimmungen der ersten Sätze bringt. Außer einem energischen Hornruf und einem motorischen Thema der Violoncelli treten im Verlauf des Satzes noch einige andere, zum Teil verwandte thematische Bildungen auf, die alle aber dem aufstrebenden, gegen Schluß hin triumphalen Charakter des Satzes dienen. Reinhard Schau LITER AT URHINWEISE Kühner: Bcrlioz (Freiburg 1952) Frank Martin, in „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“ Bd. 8 (Kassel 1958) Br. Walter: Gustav Mahler (Zürich 1936) Mitteilungen : Im 6. Philharmonischen Konzert am 25., 26. und 27. Januar 1963 gastiert das Städtische Sinfonieorchester Prag unter seinem Dirigenten Vaclav Neumann mit dem Prager Geiger Stanislav Srp. Diesem Austauschgastspiel im Rahmen des Freundschaftsvcrttages der beiden Orchester waren drei Konzerte der Dresdner Philharmonie in Prag und Pilsen im November 1962 vorausgegangen. Generalmusikdirektor Kurt Masur, der Chefdirigent der Komischen Oper Berlin, leitet als Gast das 6. Zyklus- Konzert am 2. und 3. Februar 1963. Branka Musulin spielt im 9. Außerordentlichen Konzert am 9. und 10. Februar 1963 das Klavierkonzert in d-Moll, KV 466, von W. A. Mozart und das 4. Klavierkonzert in G-Dur von L. v. Beethoven. Die Londoner Covent Garden Opera plant eine Aufführung der Oper „Der goldene Hahn“ von Rimski-Korsa- kow. Eine Suite aus dem selten gespielten Werk brachte das 2. Zyklus-Konzert der Philharmonie. Der Dirigent Karl Elmcndorff ist am 21. Oktober 1962 im Alter von 71 Jahren verstorben. Er genoß als Leiter der Dresdner, Berliner und Münchner Staatsopern sowie als langjähriger Gastdirigent der Bayreuther Festspiele großes Ansehen, besonders als Interpret der Werke Richard Wagners. Professor Bernhard Paumgartner konnte am 14. Oktober 1962 seinen 85. Geburtstag begehen. Er war von 1917-1938 und von 1945-1959 Leiter des Salzburger Mozarttcums und ist noch heute als Präsident der Salz burger Festspiele tätig. Der Pianist Mieczyslaw Horszowski wurde anläßlich seines 70. Geburtstages mit einem Festival in Zermatt (Schweiz) geehrt. Vor 1933 gastierte er unter Fritz Busch in Dresden. Im Januar 1963 nimmt die Dresdner Philharmonie mit Gustav Schmäht als Solisten das Violinkonzert von Chatschaturjan für den VEB Deutsche Schallplattcn auf. Am 2. Dezember 1962 verstarb in Moskau der Verdiente Künstler der RSFSR Professor Nikolai Anossow, Leiter der Staatlichen Philharmonie Moskau und Lehrer am Tschaikowski-Konservatorium. Professor Anossow dirigierte 1955 und 1959 als Gast die Dresdner Philharmonie. ✓ 5. Philharmonisches Konzert 1962/63 6006 Ra III-9-5 163 2 It-G 009/1/63