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Zwei Komponisten von Weltgeltung prägen das Gesicht der ungarischen Gegenwartsmusik: Bela Bartök und Zoltän Kodäly. Beider Schaffen wurzelt zutiefst in der Volksmusik, ganz besonders in den urtümlichen Bauernliedern ihres Heimatlandes, die sie systematisch, mit wissenschaftlicher Genauigkeit sammelten und zur Grundlage ihrer eigenen künstlerischen Aussagen machten. Vor allem Bela Bartök, eine überragende schöpferische Persönlichkeit, kam zu einer neuartigen, faszinierenden Tonsprache, in der er f olkloristische Elemente mit dem klassischen Formprinzip verschmolz. Bartöks Werke gehören zu den stärksten musikalischen Leistungen unseres Jahrhunderts. Sie prägten zweifellos am eindrucksvollsten den Begriff ungarischer Gegenwartsmusik, trugen ihn in alle Welt, machten ihn klangvoll. Dennoch ist es falsch, weil einseitig, lediglich in Bartök, wie es mitunter geschieht, die gesamte Wesenheit zeitgenössischen ungarischen Musikschaffens begreifen zu wollen. Neben einer stattlichen Reihe von Namen ist es vor allem Zoltän Kodäly, der in der Rangliste heutiger ungarischer Komponisten nach Bartök unstreitig an der Spitze steht. Was wissen wir im Grunde von ihm? Wenig genug. Vielleicht, daß er der Komponist des „Psalmus Hungaricus“, jenes großartigen nationalen Chororchesterwerkes, der Opern „Häry Jänos“ und „Die Spinn stube“ sowie der beliebten, auch heute erklingenden „Tänze aus Galänta“ ist. Der 80. Geburtstag, den der Meister am 16. Dezember dieses Jahres feiern kann, sei uns Anlaß, etwas näher auf Werk und Bedeutung des Komponisten einzugehen. Ein Jahr jünger als Bartök, studierte Kodäly ebenfalls an der Budapester Musikakademie. An der Universität der ungarischen Hauptstadt promovierte er zum Dr. phil. Gemeinsame Neigungen und Pläne verbanden Kodäly und Bartök früh zu freundschaftlichem Kontakt, der sich bald zu wissenschaftlicher und künstlerischer Zusammenarbeit erweiterte. Seit 1910 trat er in zu nehmendem Maße als Komponist substanzreicher Chor-, Orchester-, Kammermusik-, Bühnen- und Gesangswerke — auch im Ausland — hervor. Besonders im Chorkomponisten Kodäly begrüßte man den Erneuerer der ungarischen Musik. Bedeutendste Dirigenten der Welt, darunter Ansermet, Furtwängler, Kussewitzky, Molinari u. a., setzten sich für sein Schaffen ein. Schon jeher war Kodälys Ausstrahlungskraft als Komponist, Mensch, Pädagoge und Wissenschaftler bedeutend. Zahlreiche Schüler verdanken ihrem pädagogisch außer ordentlich befähigten Lehrer Entscheidendes. Sogar ein deutscher Komponist, Karl Ama deus Hartmann, schrieb ein Kammerkonzert „im Geist und in Verehrung für Zoltän Kodäly“. Es sind vor allem zwei Momente, die Kodälys musikgeschichtliche Bedeutung ausmachen. Das ist einmal seine ungarisch-urwüchsige schöpferische Begabung, die seinen Namen international bekannt werden ließ, und zum zweiten seine — mit Bartök gemeinsam unter nommene — folkloristische Forscher- und Sammlertätigkeit. Aufschlußreich ist es, daß Bartök, der vom Komponisten bekanntlich nicht bloße Volksliedzitate, sondern eigenstän dige, lebendig-schöpferische Imitationen, Entwicklungen im Sinne der Folklore und ihrer Atmosphäre forderte, bescheidenerweise in Kodälys Schaffen das beste Beispiel für solche Musizierhaltung sah. Ein Komponist dieses Typs hatte — sagt Bartök — „das Wesen der (ungarischen) Bauernmusik gänzlich in sich auf gesogen, sie zu seiner musikalischen Mutter sprache gemacht“, „er beherrscht sie so vollkommen wie ein Poet“. Eine derartig schwer wiegende Äußerung aus dem Munde des Freundes gibt uns wichtige Ansatzpunkte für eine Einschätzung der Musik Kodälys, die sich trotz einiger Berührungspunkte dennoch von der Bartöks sehr unterscheidet. Denn im Grunde löste sich Kodäly — bei aller bewußter Ab lehnung überschwenglicher spätromantischer Ausdrucksmittel — nie ganz von der roman tischen Tradition. So meidet er auch bei aller urwüchsiger Vitalität Bartöks explosive Schroffheiten, ist Einflüssen Bachs (ja sogar Palestrinas), Liszts, Debussys oder Strawinskis nicht verschlossen und gibt sich insgesamt gemäßigt „modern“, farbig, sinnenhaft, frisch, witzig, temperamentvoll übermütig, nicht selten auch geistreich-doppelschichtig.Vor allem aber ist das ungarische Volkslied die inspirative Grundlage seiner klassizistischen, von innerer Wahrhaftigkeit und tiefem Humanismus erfüllten Tonsprache. Das zweite Moment der musikhistorischen Bedeutung Kodälys, sofern sie sich schon jetzt abzeichnet, sind seine Leistungen als Folklorist. Seit 1905 ging er zusammen mit Bartök an die systematische Erforschung der „bis dahin schlechtweg unbekannten ungarischen Bauern musik“, aufräumend mit den — seit Franz Liszts „unsterblichem Irrtum“ — gängigen falschen Vorstellungen von ungarischer Musik. Die Ergebnisse dieser wissenschaftlichen Volksmusikforschung wurden 1934 von der Ungarischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben. Bartök und Kodäly hatten ein Material von rund 3000 Hauptmelodien mit über 10000 Varianten für den Druck vorzubereiten! (In diesem Zusammenhang sollte man nicht versäumen, Kodälys grundlegendes Buch „Die ungarische Volksmusik“, deutsch; Budapest 1956, zu studieren.) Die „Tänze aus Galänta 1 ‘, nach den Marosszeker Tänzen seine zweite große Tanzkomposi tion für Orchester, schrieb der Komponist 1933 anläßlich des 80jährigen Bestehens der Budapester Philharmonischen Gesellschaft. Galänta ist ein kleiner ungarischer Marktort an der alten Bahnstrecke Wien—Budapest, in dem der Komponist sieben Jahre seiner Kindheit verbrachte. Damals wirkte dort eine berühmte, seither verschollene Zigeunerkapelle, die dem Knaben ersten „Orchesterklang“ vermittelte. Um 1800 erschienen in Wien etliche Hefte ungarischer Tänze im Druck, unter denen sich auch eines „von verschiedenen Zigeunern aus Galantha“ befand. Kodälys „Tänze aus Galänta“ greifen auf dieses alte, überlieferte Volks gut zurück, denn die Hauptmotive des Werkes entstammen jener erwähnten Sammlung. — Die Einleitung der temperamentvollen Komposition wird von einem kurzen Ruf der Celli bestimmt, dem die übrigen Streicher und Instrumente spielfreudig antworten. Nach einer Solokadenz bringt die Klarinette das im Andante maestoso stolz daherschreitende Haupt thema, dessen zurückgehaltene Leidenschaftlichkeit in der Wiederholung bereits zum Aus druck kommt. Anschließend erklingt ein ungarischer Werbungstanz in mäßiger Bewegung. Der ersten Reprise des Hauptthemas folgt ein anfangs zierlicher, dann sich immer mehr stei gender Tanzsatz. Buntwirbelnd ist der Charakter des nächsten musikalischen Geschehens. Nach einem lustigen Intermezzo wird der feurige Sporntanz angestimmt, der den Abschluß des Werkes bildet. Wie von fern tönt noch ein letztes Mal das Hauptthema herein. Für die Besetzung Klavier und Orchester kompionerte Bela Bartök in allen Schaffensperio den: 1904 entstand als op. 1 die Rhapsodie für Klavier und Orchester, 1926 — in der mitt leren Schaffensphase — das erste Klavierkonzert, dem 1931 das auf unserem heutigen Pro gramm stehende zweite folgte. 1945 schließlich schrieb er als eine seiner letzten und er greifendsten Schöpfungen das dritte Klavierkonzert. Bartökszweites Klavierkonzert wahrt die klassische Dreisätzigkeit, wenn auch der zweite Satz ein von Adagioteilen umschlossenes Scherzo ist (Adagio - Presto - Adagio) und somit eigentlich beide Innensätze des sinfonischen