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ZUR EINFÜHRUNG Eine uralte Volksmusikkultur bildet die Grundlage der bulgarischen Kunstmusik, die sich seit dem Eindringen des Christentums entwickelte. Zunächst entstanden hauptsächlich Kompositionen im homophonen Stil. Auch während der byzantinischen und türkischen Vorherrschaft konnte dank der kyrillischen Schrift die nationale Gestalt der ostkirchlichen Liturgie beibehalten werden. Die Kirchenmusik erreichte im mittelalter lichen Bulgarien, das im 10. und namentlich im 13./14. Jahrhundert mit Byzanz an Macht und Kultur wetteiferte, einen beachtenswerten Auf schwung. Die darauf folgende geistliche und politische Unterdrückung vernichtete bulgarische Kulturinsti tute und Musikdenkmäler. Fünf Jahr hunderte pflegte das bulgarische Volk vornehmlich seine weltliche Lied kunst, die durchweg an Arbeit, Brauchtum und Rundtanz gebunden ist. Arbeitslieder (Hirten-, Jagd-, Erntelieder) und seit der Zeit der Befreiungs kämpfe gegen die türkische Fremdherrschaft die den Taten der Volks helden gewidmeten Lieder spiegeln den Alltag und die Leiden der Bevöl kerung wider. Auch von den Befreiungsaufständen (1876/77) und dem Balkankrieg (1912/13) künden sie. Revolutions- und Partisanenlieder zeu gen von der monarchistischen und faschistischen Zeit. Nach der Beendi gung des zweiten Weltkrieges besingen die Lieder das neue Leben in der Volksrepublik Bulgarien. Um die Erforschung, Sammlung und Aufnotie rung des alten bulgarischen. Volksmusikgutes machten sich insbesondere A. Bukoreschtliew, Dobri Christow und W. Stoin verdient. Letzterer hat allein über 10 000 bulgarische Volksweisen nach dem Gehör aufgezeichnet und in drei Sammelbänden erscheinen lassen. Anderthalbtonintervalle, asymmetrische Taktarien ( 5 /s, 7 /s, 11 /s), eine ausdrucksstarke Dynamik innerhalb des Taktes trotz weitgespannter Melodielinien, reiche Ornamen tik und Ausdruckskraft sind die wesentlichsten Merkmale der bulgarischen Volksmusik. Die sinfonische Musik und das Orchesterwesen konnte sich während der fünf Jahrhunderte dauernden türkischen Fremdherrschaft — wie in allen Ländern des Balkans — kaum entwickeln. Zur Zeit des türkischen Jochs existierten in Bulgarien nur einige kleinere Orchester, die europäische Tanzmusik, Opern- und Operettenpotpourris sowie Phan tasien über bulgarische Volkslieder spielten. Dem kulturellen Fortschritt standen erst dann die Tore offen, als 1878 die russischen Heere das Land befreiten und der neue bulgarische Staat gegründet wurde. Nun erlebte das Orchesterwesen einen starken Aufstieg. Die mehr und mehr sich ent wickelnde mehrstimmige Tonkunst fand einen durch die jahrhundertealte Volksliedkultur gut vorbereiteten Boden. Chöre der russischen Befreiungs truppen erfreuten sich in Bulgarien einer enthusiastischen Aufnahme und Nachahmung. Herbeigerufene tschechische Musikanten bildeten aus ein fachen Landburschen Militärkapellen, die zum Grundstock der ersten Sin fonieorchester wurden. Zur gleichen Zeit führte man in den Schulen den Gesangsunterricht nach Noten ein. 1904 wurde in Sofia eine Musikschule gegründet, die 1921 in eine staatliche Musikakademie umgewandelt wurde. Im Jahre 1908 entstand die Oper in Sofia (seit 1922 Nationaloper). Wenn sich auch kulturell fortschrittlich gerichtete Kreise der bulgarischen Öffentlichkeit begeistert für eine progressive Entwicklung der bulgarischen Musik einsetzten, brachten doch die korrupten gesellschaftlichen Verhält nisse des bürgerlich-monarchistischen Regimes manchen Rückschlag. Viele der neu entstandenen Orchester hatten nur eine kurze Lebensdauer. Vor dem 9. September 1944, dem Tag der Befreiung vom Faschismus und von der Monarchie, war das 1936 gegründete Königliche Sinfonieorchester das einzige Staatsorchester des Landes. Nun aber setzte ein großer Aufschwung der bulgarischen Musikkultur ein. Überall im Lande entstanden Sinfonie orchester. neue Werke der sinfonischen und musikdramatischen Literatur wurden komponiert, ein Musikverlag wurde ins Leben gerufen. Großzügig vom volksdemokratischen Staat gefördert und unterstützt, schufen und schaffen die bulgarischen Komponisten nunmehr ihre Werke, die in phan- tasievollcn schöpferischen Synthesen und volksnaher Musiksprache ihre humanistischen Gedanken widerspiegeln. Bemühten sich noch die ersten erwähnenswerten bulgarischen Tonsetzer (E. Manolow. 1860—1902; A. Bukoreschtliew. 1870—1949; P. Pipkow, 1871 bis 1942) um die Aussetzung bulgarischer Volksweisen in Anlehnung- an westeuropäische Stilformen, so knüpften die nachfolgenden Komponisten an die Folklore an und schufen Werke in betont nationaler Gestalt. In diesem. Zusammenhang seien u. a. genannt der Dvoräk-Schüler Dobri Christow (1875—1941), Georgi Atanasow (1881—1931). Petko Slainow (geb. 1896). Pantscho Wladigerow (geb. 1899), Wesselin Stojanow (geb. 1902). Filip Kutew (geb. 1903), Swetoslaw Obretenow (geb. 1909), Georgi Dimitrow (geb. 1904), Paraschkew Hadiew (geb. 1912), Alexander Ratschew (geb. 1922). Auch die vier der mittleren bzw. jüngeren bulgarischen Kompo nistengeneration angehörenden Namen, die auf unserem Programm ste hen. gehören in diese Reihe. Die Bekanntschaft mit ihren Werken ist ge eignet, das Bild, das wir uns bisher von der bulgarischen Gegenwartsmusik machen konnten, zu ergänzen und zu vertiefen. So wird gleich die erste Begegnung im Rahmen unserer diesjährigen Zykluskonzerte „Musik der Nationen“ von großem Gewinn sein. Zugleich ergibt sich die Gelegenheit zu einem. Bekenntnis der Freundschaft zur Volksrepublik Bulgarien, die am. 9. September festlich den 20. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus beging Eine profilierte Komponistenpersönlichkeit gibt den Auftakt des heutigen, von einem prominenten bulgarischen Dirigenten geleiteten Konzerts, das uns auf vielseitige Weise mit Proben neuer bulgarischer Musik bekannt macht: Marin Goleminow, geboren am 28. September 1908 in Küstendil. Als Sohn eines sich musikalisch betätigenden Rechtsanwaltes absolvierte er nach dem Besuch des Gymnasiums und erstem Musikunter richt 1930 die Musikakademie in Sofia und 1934 die Schola Cantorum in Paris (Komposition bei d’Indy), wobei er auch Vorlesungen an der Sor bonne hörte. Es schloß sich ein vierjähriges Wirken als Lehrer, Streich quartett-Bratscher und Radio-Dirigent in Sofia an. 1938/39 trieb er Spe zialstudien in München bei Joseph Haas und Alfred Lorenz. 1943 erhielt