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musikalischen Öffentlichkeit in den letzten Jahren mit dem geistreichen Concertino für Oboe und Streichorchester, den Händelvariationen für Orchester, den beiden Sinfonien — für die erste erhielt er 1955 den Musik preis der Stadt Halle —, einer Sinfonietta, einer fünfsätzigen Orchester suite, einem Concertino für Klavier und Orchester, einem Klaviersextett und einem 12tönig konzipierten Streichquartett (1960). An Bühnenwerken entstanden bisher die 1956 in Halle uraufgeführte Oper „Till“ und das Ballett „Provencalisches Liebeslied“. Für die Jahrtausendfeier Halles im Jahre 1961 schrieb Wohlgemuth, der auch mit verschiedenen Filmmusiken hervortrat, das Oratorium „Jahre der Wandlung“. Die immer gehaltvolle Tonsprache des Hallenser Komponisten drückt sich mit Vorliebe in knap pen, konzentrierten Formen bei prägnanter, plastischer Themenbildung, spannungsvoller Rhythmik aus. Musizier- und Experimentierfreudigkeit ist ebenso erkennbar wie die Neigung zu vertiefter, lyrischer Besinnlich keit auf der einen Seite, zu kapriziösen, spritzig-launischen Tempera mentsausbrüchen auf der anderen. In beiden Bereichen aber, im Lyrischen sowohl als im Ausdruck gesunder Lebensfreude, ist Wohlgemuths Musik stets dem Realen verpflichtet. Das Konzert für Violine und Orchester entstand anläßlich des 50jährigen Bestehens des Instituts für Musikwissenschaft Halle, mit dem der Kom ponist durch seine Lehrtätigkeit eng verbunden ist; es wurde am 26. April 1963 in Halle uraufgeführt. Solistin war schon bei der Uraufführung die ungarische Geigerin Maria Vermes, der das Werk gewidmet ist und die es auch in unserem heutigen Konzert zum Vortrag bringen wird. „Mannig faltigkeit aus dem Einheitlichen zu entwickeln, bezeichnete den Plan mei nes Vorhabens, in Aufnahme und Umakzentuierung der bekannten Ziel setzung unserer Klassiker“, äußerte der Komponist zum Anliegen des Werkes. Der Hallenser Ordinarius für Musikwissenschaft, Walther Sieg mund-Schultze, nannte das nach klassischem Vorbild dreisätzig angelegte Konzert „ein schönes Beispiel lebendiger Traditionsbindung und unge zwungenen Neuerertums“ und rühmte daran namentlich „die virtuose Spielfreude, den lebhaften kombinatorischen Geist, der die verschiedenen Themenkomplexe motivisch miteinander verknüpft, gegeneinander- und übereinanderstellt“. Einprägsame, ausdrucksvolle Thematik, gesangliche, zum Teil die Intonation von Volks- und Massenlied aufgreifende Melodik, originelle Rhythmik und vor allem eine sehr einfallsreiche Instrumenta tion zeichnen das anspruchsvolle, an Interpreten wie Hörer keine geringen Anforderungen stellende Violinkonzert in besonderem Maße aus. Der erste Satz des Werkes ist in Sonatenform aufgebaut; der Komponist verwendet aber in der thematischen Arbeit nicht zwei einander gegen überstehende Hauptthemen, sondern zwei Themenkomplexe mit je zwei einander ergänzenden Themen. Marschartig wird das Konzert rhythmisch akzentuiert eröffnet. Der zweite, kontrastierende Themenkomplex beginnt nach einer - Flöteneinleitung mit einer kantablen melodischen Linie der Solovioline („dolce espressivo“). In der Durchführung des Satzes fesselt besonders eine kunstvoll-kontrapunktische Verarbeitung der Themen (Fugato, Umkehrungen usw.). Nach einer breiten, zu dreifachem Forte führenden Schlußsteigerung endet der erste Satz im Pianissimo „offen, weiterdeutend in den Mittelsatz“ (Wohlgemuth). In dreiteiliger Liedform wurde der poetische langsame zweite Satz ange legt. Ein erregter Mittelteil wird hier von zwei Eckteilen umschlossen, in denen innige, lyrische Melodik dominiert, obgleich die anmutige Hellig keit des weitgeschwungenen E-Dur-Hauptthemas mehrfach durch Span nungen getrübt wird. Als einen „Gesang des Friedens und der Hoffnung aber nicht ohne Konflikte“ bezeichnete Siegmund-Schultze diesen An dante-Satz, dessen gewisse Melancholie der Komponist als eine Melancho lie verstanden wissen will, die schließlich ..heiter macht“ und zu einer „Steigerung und Intensivierung des Lebensgefühls“ führt. „Mir kam es darauf an, im aufgeschlossenen Hörer jene Empfindungen zu fördern, die ihn befähigen, Reste der .Entfremdung' in sich zu überwinden und jene Harmonie bewußt nachzuerleben, die uns ein in seinem Grunde sinnvoll erfülltes Dasein gibt.“ Tänzerisch-feurig gibt sich das Finale, ein wirkungsvolles Rondo, das von drei Hauptthemen getragen wird, die in der Entwicklung des Satzes wie der in vielfältiger Weise miteinander kombiniert erscheinen. Das erste dieser Themen stellt das eigentliche Rondothema dar. Während das zweite Thema intonationsmäßig nach Armenien oder Grusinien deutet, zeigt das energische dritte Hauptthema — wie übrigens auch andere Episoden inner halb des Konzertes — Anklänge an ungarische Volksmusik; jedoch sollen die Synkopierungen und Akzentsetzungen hier nach Aussage Wohlge muths vor allem Willensimpulse verdeutlichen, eine aktive Haltung for mulieren. Hingewiesen sei dabei auch noch auf ein Eisler-Zitat aus dem kraftvollen Lied ..Und weil der Mensch ein Mensch ist“, das der Kompo nist als Bratschen-Kontrapunkt dem dritten Thema beifügte. „Das russische Element in meiner Musik im allgemeinen — das heißt die dem russischen Lied verwandte Art und Weise der Melodieführung und ihre Harmonisierung — ist darauf zurückzuführen, daß ich, in völliger Wellabgeschiedenheit geboren, von frühester Kindheit an von der unbe schreiblichen Schönheit der charakteristischen Züge der Volksmusik durch drungen war und ich das russische Element in allen seinen Erscheinungs formen bis zur Leidenschaft liebe, mit einem Wort, daß ich eben ein Russe bin im erschöpfendsten Sinne des Wortes.“ Diese Worte Peter Tschai- k o w s k i s treffen in besonderer Weise auf seine in den Jahren 1877/78 (in unmittelbarer Nachbarschaft zur Oper „Eugen Onegin“) entstandene, am 10 Februar 1878 in Moskau uraufgeführte 4. Sinfonie f-Moll op. 36 zu. in der sich seine starke innere Beziehung zur Volksmusik seiner Hei mat deutlich widerspiegelt. Eine schwere, durch das Scheitern seiner unglücklichen Ehe bedingte Lebens- und Schaffenskrise des Meisters, aber auch der Beginn neuer künstlerischer und menschlicher Gesundung fanden in dieser Sinfonie ihren Niederschlag. Tschaikowski widmete das Werk seinem „besten Freunde“, seiner Gönnerin Nadjeshda von Meck, die ihm seit 1877 als verständnisvolle, seine Musik bewundernde Freundin zur Seite stand und ihn durch finanzielle Unterstützung für lange Zeit von materiellen Sorgen unabhängig machte. Durch den hochinteressanten Briefwechsel zwischen dem Komponisten und Frau von Meck, die sich übrigens bekanntlich persönlich niemals gesehen haben (was Anlaß zu zahlreichen romanhaften Deutungen dieses ungewöhnlichen Freundschafts verhältnisses gegeben hat), erhalten wir gerade im Falle der 4. Sinfonie wesentliche Aufschlüsse über Haltung und Anliegen des Werkes. Obwohl Tschaikowski anderen (so auch seinem Schüler Sergej Tanejew) gegen über leugnete, daß die neue Sinfonie programmatisch zu deuten sei, be richtete er doch Frau von Meck in einem ausführlichen Brief von einem eigentlich nur für - sie bestimmten Programm der einzelnen Sätze: „Unsere Sinfonie hat ein Programm, das heißt, es besteht hier die Möglichkeit, in Worten darzulegen, was sie auszudrücken sucht.“ Der sehr umfangreiche erste Satz beginnt mit einer Einleitung, die nach Tschaikowski „den Keim der ganzen Sinfonie, ohne Zweifel die Kernidee“ enthält; der rhythmisch prägnante Triolengedanke des Anfangs symboli siert das „unerbittliche Fatum, jene Schicksalsgewalt, die unser Streben nach Glück hindert, die eifersüchtig darüber wacht, daß Glück und Friede nicht vollkommen und ungetrübt seien“. Neben diesem Grundthema be stimmen zwei weitere Themen, eine schwebend-elegische, sehnsüchtige Walzermelodie, das eigentliche Hauptthema, und ein lieblicher, von der Klarinette vorgetragener Seitengedanke den an großen dramatischen Stei gerungen, Kämpfen und Auseinandersetzungen ungemein reichen Satz, der in unerbittlicher Härte endet.