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„Meine Sinfonie wird etwas sein, was die Welt noch nicht gehört hat! Wenn ich nur alles so fertig bekomme, wie ich mir vonehme“, heißt es in einem Brief, den Mahler der Sängerin Anna von Mildenburg während der Arbeit an seiner 3. Sinfonie d-Moll im Juli 1896 schrieb. In der Tat kommt in dem 1895 skizzierten und im Jahre darauf abgeschlossenen Werk bereits rein äußerlich wieder die ganze Größe von Mahlers Wollen zum Ausdruck: in seinen Riesenausmaßen, die die der vorangegangenen Zweiten noch übertreffen, in seiner umfangreichen Besetzung (zum großen Orchester treten noch Knaben- und Frauenchor sowie eine Altstimme hinzu), in seiner formalen Eigenwilligkeit, mit der es sich weitgehend vom traditionellen sinfonischen Schema entfernt. Die sechssätzig ange legte, durch die Verwendung von Texten aus „Des Knaben Wunderhorn“ wie die Sinfonien Nr. 2 und 4 zum Kreis der Wunderhorn-Sinfonien ge hörende Schöpfung zeigt aber auch inhaltlich, in ihrem programmatischen Vorwurf, eine sehr ungewöhnliche Zielsetzung: die ganze Vielfalt der Natur sollte hier in ihren verschiedensten Formen künstlerisch gestaltet werden; mit Mahlers Worten: „Die ganze Natur bekommt darin eine Stimme“. Die große Liebe des Komponisten zur Natur, zu allen lebenden Wesen findet Widerspiegelung in diesem ganz dem Leben zugewandten und im wesentlichen ein freudiges, harmonisches Lebens- und Weltgefühl vermittelnden Werk, dem Mahler ursprünglich (neben anderen Bezeich nungen wie „Pan“ oder ..Ein Sommernachtstraum“) den Titel „Die fröh liche Wissenschaft“ (nach Nietzsche) geben wollte. „Es drängt ihn nach Reinheit und Unverfälschtheit inmitten einer Welt, die von offizieller Unreinheit und Lüge regiert wurde — und nähert sich mit Rousseauseher Hingabe der Natur, die er gern vermenschlicht und belebt sieht von menschlich leidenden und empfindenden Wesen, so wie den Tieren und Blumen im Wald seiner 3. Sinfonie“ (E. H. Meyer). Mahler gab den sechs Sätzen der Sinfonie programmatische Überschriften, die eine durch gehende, als geschlossene Vorstellungsreihe stufenweise aufgebaute pro grammatische Grundidee erkennen lassen. Das Werk gliedert sich in zwei große Teile, deren erster aus dem äußerst umfangreichen, fast die Hälfte der Gesamtdauer beanspruchenden ersten Satz gebildet wind', und deren zweiter die übrigen fünf Sätze umfaßt. Zwischen diesen beiden Abteilungen veriangteMahler ausdrücklich eine längere Pause. Während im ersten Teil — nach Paul Bekker — das Bild einer neu erstehenden Welt, hervorgerufen durch den nach Vollendung drängenden Naturtrieb, gezeichnet wird, die Er weckung, Beseelung und Befruchtung lebloser Materie durch den Weckruf Pans, den Weckruf des Sommers, werden im zweiten Teil die Lebens kreise der Wesen der Erde durchschritten; Blumen, Tiere, der Mensch erzählen, bis zuletzt alles im Bekenntnis zur großen, allumfassenden Macht der Liebe gipfelt. Wenn der Komponist die einzelnen Satzüberschriften aus Furcht vor Mißverständnissen auch schließlich wieder fortließ, sind sie — wie auch zahlreiche damit im Zusammenhang stehende Äußerungen von ihm, die gerade zur Dritten in seltener Fülle vorliegen — doch sehr aufschlußreich für das Verständnis des Werkes, das übrigens erst 1902 beim Musikfest des Allgemeinen deutschen Tonkünstlervereins in Krefeld unter Leitung Mahlers seine geschlossene Uraufführung erlebte, nachdem einzelne Sätze daraus bereits früher u. a. von so bedeutenden Dirigenten wie Felix von Weingartner und Arthur Nikisch aufgeführt worden waren. „Pan erwacht, der Sommer marschiert ein“ überschrieb der Komponist den ersten Satz, der mit einem kräftigen Hörnerruf eröffnet wird. Ein Hauptthema oder eine Durchführung im eigentlichen Sinne sind in der außergewöhnlichen Architektur dieses gewaltigen sinfonischen Gebildes nicht mehr vorhanden, obgleich Züge der Sonatensatzform nachweisbar sind; ein großer Themenkomplex, aus den verschiedensten Motiven und Thementeilen zusammengesetzt, ist das musikalische Material, aus dem eine verwirrend bunte Fülle von Empfindungswelten vor uns ersteht. Groteske Episoden, volkstümlich burleske Elemente begegnen ebenso wie liedhafte Partien und von wildem Pathos erfüllte Teile. Marschmusik, feurig-beschwingt, heiter, aber auch grellfarbig und düster, dominiert; thematisch haben besonders Hörner und Posaunen Wichtiges zu sagen. Der sehr ungewöhnliche, starke Kontraste und kraftvolle Kulminations punkte aufweisende Sinfoniesatz, von Bruno Walter als „einzigartige Schöpfung einer ausschweifenden Phantasie“ bezeichnet, gab neben der programmatischen Idee des Komponisten immer wieder Anlaß zu ganz verschiedenen Deutungen. So wollte man beispielsweise auch den Weg des Künstlers durchs Leben darin geschildert sehen, und Richard Strauss hatte beim Dirigieren dieses Satzes die Vorstellung unübersehbarer Arbei terbataillone, die zur Feier des 1. Mai in den Prater ziehen. Im zweiten Satz, „Was mir die Blumen auf der Wiese erzählen“ genannt, versenkte sich Mahler liebevoll in das Wesen der Blumen. „Es ist das Unbekümmertste, was ich je geschrieben habe“, äußerte er über diesen menuettartigen Variationensatz mit seinem reizenden, zarten Thema, „so unbekümmert, wie nur Blumen sein können. Das schwankt und wogt alles in der Höhe aufs leichteste und beweglichste, ohne Schwere nach unten in der Tiefe, so wie die Blumen im Winde auch biegsam und spie lend sich wiegen.“ Doch auch in dieser idyllischen Tondichtung, die früh eines der beliebtesten Stücke Mahlers wurde (er spricht selbst einmal ein wenig ironisch von dem „in Schwung gekommenen Blumenstück“) kommt es zu größerer Bewegtheit, ja Unruhe: „Freilich bleibt es nicht bei der harmlosen Blumenheiterkeit, sondern plötzlich wird alles furchtbar ernst und schwer; wie ein Sturmwind fährt es über die Wiese und schüttelt Blätter und Blüten“. „Was mir die Tiere im Walde erzählen“ heißt der nächste Satz, der Scherzo-Charakter trägt und in Rondoform angelegt ist. Ein früher kom poniertes Wunderhorn-Lied Mahlers „Kuckuck hat sich zu Tode gefallen“ wurde thematisch in diesem ins Reich der Waldtiere führenden Satz ver arbeitet. Als trioartiger Teil ist in das heiter beginnende und .sich zu einer musikalischen Groteske steigernde Tierstück eine schwärmerische Posthornepisode von romantischem Zauber eingefügt. Im vierten Satz, „Was mir die Nacht erzählt“,' steht nun der Mensch im Mittelpunkt; in symbolhafter Steigerung tritt die menschliche Stimme zu den instrumentalen Mitteln. Einer Altstimme sind in diesem geheimnis voll-nächtigen Adagiosatz, der bereits in der Nähe des „Abschieds“ aus dem „Lied von der Erde“ steht, Worte aus Nietzsches „Zarathustra“ an vertraut. Unmittelbar anschließend folgt in scharfem Kontrast der fünfte Satz, „Was mir die Morgenglocken erzählen“. Zu dem hellen, lustigen „Bim- Bam“ eines Knabenchores und zu Glockenklängen singt ein Frauenchor ein Lied auf Worte aus „Des Knaben Wunderhorn“: „Es sungen drei Engel ein süßen Gesang“, unterbrochen von zagenden Einwürfen des Altsolos. Durch die besondere Besetzung (im Orchester herrschen Holzbläser, Hör ner und Harfe vor, während die tiefen Streicher erst später hinzukommen und die Violinen gänzlich fehlen) werden hier Klänge .ganz eigener Art erzielt. Ein Adagio von stärkster Ausdrucksintensität endlich bildet den Schluß satz des Werkes, „Was mir die Liebe erzählt“. „Seit Beethoven hat es nur wenige seinesgleichen gegeben“, sagte der namhafte österreichische Mu sikschriftsteller Paul Stefan von diesem Adagiosatz. Das Wort schweigt wieder, rein instrumental klingt die Sinfonie in breiter, feierlich-inniger Melodik aus. Urte Härtwig