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Das Genie Gustav Mahlers ist repräsentativ im Sinne der großen Traditionen deutscher Musik. Gegner, die seinen Sinfonien fern stehen, werden mir doch voll beistimmen, wenn sie der schöpferischen Kraft gedenken, die Mahler auch dort auszeichnet, wo er die große Musik der Vergangenheit zur Gegenwart macht. Er hat die Dämonie und die Feuermoral deutscher Meister, den einzigen Adel, der seinen wahrhaft göttlichen Ursprung noch zu zeigen vermag. Es tut wohl, zu sehen, wie der Wert dieses seltenen Mannes mehr und mehr allgemein deutlich wird. Gerhart Hauptmann zu Mahlers 50. Geburtstag im Jahre 1910 Gustav Mahlers Kunstschaffen gehört meines Erachtens zu den bedeutendsten und interessantesten Erscheinungen der heutigen Kunstgeschichte . . . Die Plastik seiner Instrumentationskunst insbesondere ist absolut vorbildlich. Richard Strauss zu Mahlers 50. Geburtstag im Jahre 1910 Das, worin ich beim Instrumentieren den Komponisten der Vergangenheit und Gegenwart voraus zu sein glaube, könnte man in dem einen Wort „Deutlichkeit“ zusammenfassen. Daß alles durchaus so zum Gehör kommt, wie es meinem inneren Ohr ertönt, ist die Forderung, zu der ich alle zu Gebote stehenden Mittel bis aufs letzte auszunützen suche. Nur am richtigen Platze und in seiner völligen Eigenart darf jedes Instrument verwendet werden. Gustav Mahler in einem Gespräch vom Sommer 1896 Das Wichtigste in der Komposition ist der reine Satz, daß jede Stimme wie beim Vokalquartett, das der Prüfstein, die Goldwaage dafür ist, gesanglich sei. Gustav Mahler in einem Gespräch vom Herbst 1896 Muß man denn dabei sein, beim Unsterblichwerden? Ein Werk, bei dem man die Grenzen sieht, riecht nach Sterblichkeit, was ich in der Kunst absolut nicht vertragen kann! Das Ideal der Zukunft wären Künstler, die die Bach’sche Polyphonie ebenso könnten, wie sie Volkslieder sängen. Hören Sie mir nur auf, Konzertsäle zu verdunkeln! Man muß so Musik machen, daß den Leuten Hören und Sehen vergeht. Die Hörner, die der Mensch sich ablaufen soll, sind meist das Beste an ihm. Aus Briefen und Gesprächen Gustav Mahlers Wahrscheinlich empfangen wir die Urrhythmen und Urthemen alle aus der Natur, die sie schon in jedem Tierlaut in großer Prägnanz uns bietet. Wie ja der Mensch, Und der Künstler im besonderen, jeden Stoff und jede Form der Welt, die ihn umgibt, entnimmt, freilich in ganz anderem, erweitertem Sinne. Sei es nun, daß er sich in harmonisch-glücklichem Einklänge mit der Natur befindet oder sich zu ihr in schmerzvoll-leidenden oder feindlichen Gegensatz stellt, sei es, daß er von überlegener Warte aus in Humor und Ironie mit ihr fertig zu werden sucht. Gustav Mahler in einem Gespräch vom Sommer 1897 Zu den Überschriften der 3. Sinfonie: Diese Titel werden Ihnen nach Kenntnis der Partitur gewiß manches zu sagen wissen. Sie werden auch aus ihnen eine Andeutung schöpfen, wie ich mir die stetig sich steigernde Artikulation der Empfindung vorgestellt habe: vom dumpfen., starren, bloß elementaren Sein (der Naturgewalten) bis zum zarten Gebilde des menschlichen Herzens, welches wiederum über dieses hinaus (zu Gott) weist und reicht Gustav Mahler an Josef Krug-Waldersee im Jahre 1902 Aber in der 3. Sinfonie handelt es sich doch um eine andere Liebe, als du ver mutest. Das Motiv des Schlußsatzes lautet: „Vater, sieh an die Wunden mein! Kein Wesen laß verloren sein!“ Verstehst du also, um was es sich da handelt? — Es soll damit die Spitze und die höchste Stufe bezeichnet werden, von der aus die Welt gesehen werden kann. Ungefähr könnte ich den Satz auch nennen: „Was mir Gott erzählt!“ Und zwar eben in dem Sinne, als ja Gott nur als „Liebe“ gefaßt werden kann. Und so bildet mein Werk eine alle Stufen der Entwicklung in schrittweiser Stei gerung umfassende musikalische Dichtung. Es beginnt bei der leblosen Natur und steigert sich bis zur Liebe Gottes! Gustav Mahler an Anna von Mildenburg im Juli 1896 Einführung in das 3. Zykluskonzert Der in den Jahren 1901—1904 entstandene, 1905 veröffentlichte Zyklus der „Kindertotenlieder“ stellt zweifellos den Höhepunkt im Liedschaffen Gustav Mahlers dar. Der Komponist hatte für diesen Liederzyklus aus einer großen Anzahl von Gedichten, die der spätromantische Dichter Friedrich Rückert (1788—1866) unter dem Eindruck des Todes; zweier seiner Kinder geschrieben hatte, fünf der besten zur Vertonung ausgewählt. Zur Zeit der Komposition des Werkes ahnte er nicht, daß er wenig später ein ähnliches Geschick erleiden mußte: den Tod seiner sehr geliebten kleinen Tochter Maria Anna, die fünfjährig im Jahre 1907 einer Scharlach- Diph therie zum Opfer fiel — ein Schlag, den Mahler zeitlebens niemals ganz überwinden konnte. Die somit nachträglich auch für ihn zu Schicksals liedern gewordenen „Kindertotenlieder“ gehören in ihrer neuartigen Aus druckswelt zum Persönlichsten und Ergreifendsten, was wir von Mahler überhaupt besitzen. ...Nun will die Sonn’ so hell auf gehn, als sei kein Unglück die Nacht ge- schehn, hebt das erste an. Unendliche Trauer spricht aus den Klängen, den durchsichtig gewobenen Linien, die sich in der Mitte zu heftigen Schmerzgebärden steigern. Die Harmonik spricht in subtilster Zwielichtig keit die feinsten Schwingungen zwischen namenloser Erschütterung und nagendem Kummer aus. die Harfe mischt Töne von abgründiger Welt verlassenheit ein, das Totenglöckchen läutet. Dennoch: Ein Lämplein erlosch in meinem Zelt — Heil sei dem Freudenlicht der Welt. Aber es klingt wie durch unterdrücktes Schluchzen. Das zweite Lied hat eine mattere Stimmung, auch im musikalischen Ausdruck. Nun seh ich wohl, warum so dunkle Flammen ihr sprühtet — es sind die Augen der Kinder gemeint. Sie wollten sagen: Sieh uns nur an, denn bald sind wir dir ferne! Milde Wehmut hat sich hier ausgebreitet. Stärker wallt der Schmerz in den beiden folgenden Stücken wieder auf: Wenn dein Mütterlein tritt zur Tür herein und Oft denk ich. sie sind nur ausgegangen. Im ersten domi niert eine klagende Weise des Englisch-Horns, die später von höheren Instrumenten weitergeführt wird. Die Singstimme hat einen seltsam mühenden, doch unsäglich kummervollen Tonfall, um gegen Ende sich mehr und mehr wieder zu leidenschaftlicher Gefühls verströmung zu er heben. Das andere' Lied hat einen ruhigen Wanderschritt — ein Gedenken an schöne Tage. Das Erinnerungsmotiv wird dichterisch umgedeutet aus dem Realen ins Symbolische: Sie sind uns nur vor angegangen und werden nicht wieder nach Hause verlangen, wir holen sie ein auf jenen Höhn. Überaus schön wird der Wanderrhythmus der Musik entsprechend umge deutet. Einen ähnlichen Weg beschreibt das letzte Lied In diesem Wetter, in diesem Braus, nie hätt ich gesendet die Kinder hinaus. Das Unwetter des Anfangs, schattenhaft, düster, bedrohlich, ruft auch den Sturm der Empfindungen wieder wach. Chromatische Doppelgänge, mit Triller ketten absinkend, werden von wetterleuchtenden Figuren umzuckt. Ein Thema aus wild aufbegehrenden Intervallsprüngen zerrt an den Nerven. Die Verzweiflung will wieder aufspringen — Man hat sie hinausgetragen, ich durfte nichts dazu sagen. Noch einmal bringt sich das Totenglöckchen in Erinnerung, aber nun wird es zum Künder der ewigen Ruhe, von keinem Sturm erschrecket, von Gottes Hand'bedecket ... Die vordem so elementare Erregung hat sich in ein Fließen ruhevoller Achtelfiguren ver wandelt, die ein stilles, inneres Leuchten auszustrahlen scheinen. Sie ruhn, sie ruhn wie in der Mutter Haus. Das Orchester läßt diesen schwer errun genen Frieden in einem Epilog nachklingen, der leise im Dunkeln ver hallt“ (Walter Abendroth).