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Memim Ammer Erscheint Dienstag, Donnerstag u. Sonnabend. Abonnementspreis einschließlich der illustrirten Beilagen „Gute Geister" u. „Zeitbilder" sowie des illustr. Witzblattes „Seisenblasen" 1,50 Mk. Zeitung M Wraud) SeiserMrs. Inserate kosten die Spaltenzeilc oder deren Raum 10 Pf., für auswärtige Inserenten 15 Pf. Tabellarische Inserate werben doppelt berechnet. Annahme von Anzeigen für alle Zeitungen. Nummer 95. Dienstag, den 14. August 1900. 13. Jahrgang. Aus Nah und Fern. — Ein neues Telegramm-Formular ist versuchsweise eingeführt worden und ist bereits vielfach in Gebrauch. Es hat die vielfach gewünschte Neuerung, daß an der zusammengefalteten Depesche von außen Ort und Zeit der Aufgabe zu lesen sind. — Der Gasthof zu Hainsberg geht am 15. d. M. in den Besitz des Hermann Füssel aus Dresden über. Wie man hört, soll die Kaufsumme 163000 Mk. betragen. — Einen raschen und unerwarteten Tod fand am Freitag auf dem Carolaschachte zu Döhlen der in Zauckeroda wohnhafte Fördermann August Schulze. Hereinbrechende Kohle schlug den Stempel weg und traf den Bedauernswerthen auf den Kopf. Der Tod trat sofort ein und wurde der Leichnam vorläufig ins Krankenhaus geschafft. Der Verunglückte hinterläßt Frau und 4 Kinder. — In einem in Frauenstein anhängigen Kon kurs soll demnächst die Vertheilung der Masse erfolgen. Dazu sind 7361 Mk. 43 Pfg. verfügbar, wovon aber vor weg die Kosten des Verfahrens zu kürzen sind. Zu berück sichtigen sind Forderungen von 74087 Mk. 46 Pfg., darunter 32262 Mk. mit Vorzugsrecht, sodaß für die Gläubiger ohne Vorrecht eine Dividende nicht zur Auszahlung gelaugt. — Die neue saure Gurke, wie sie von E. Paschky in Dresden geliefert wird, gehört sicher zu denjenigen Nahrungsmitteln, welche in der jetzigen heißen Witterung jeden willkommen ist. Ihr großer Vorzug besteht nicht nur darin, daß sie wirklich erfrischend schmeckt, sondern sie ist auch, wie kein anderes Nahrungsmittel jetzt auch ordent lich preiswert!), wie aus dem heutige» Inserat von E. Paschky zu ersehe» ist. — Erhängt aufgesunden wurde am Dien stag in einem Walde zwischen Adorf und Elster ein Italiener, der über 500 Mk. Geld bei sich halte, wovon sich vier Hundertmarkscheine in einer geheimen Tasche befanden. In seinem Koffer, den er auf dem Bahnhofe in Adorf zurück gelaffen hatte, befanden sich außerdem noch 131 Mark. — Einen furchtbaren Selbstmordversuch hat am Sonnabend Vormittag ein junger Arzt Namens W. in Bertin unternommen, der mit den Eltern in der Krausnickstraße wohnt. Ec hat sich init einein Messer die Pulsadern an beiden Handgelenken geöffnet und sich außer dem, um sicher zu verbluten, an den Oberschenkeln Adern geöffnet. An einem Schenkel brachte er sich zwei, an einem drei Schnute bei. Bevor er indeß seine Absicht erreichte, wurde das Vorhaben bemerkt und vr. W. nach einem Kcankenhause gebracht. Ueber die Veranlassung zur That ist noch nichts bekannt. — Von dem Raubmörder Edmund Waesch aus Kletzke, der den Landbriefträger Felke ermordete und vom Neu-Ruppiner Schwurgericht zum Tode verurtheilt wurde, war gegen dies Urtheil Revision angemeldet worden. Das Reichsgericht hat jetzt die Revision verworfen und das Schwurgerichtsurtheil bestätigt. — Zwei interessante Entschuldigungszettel gingen einem Lehrer in Sömmerda zu. Der erste hat folgenden Wortlaut: „Geehrter Herr Lehrer ich mechte sie doch bitten das sie mir die Baula eute und Morchen ent- schultichen. Da sie die Schrie beim Schuster hat. Achtungs- vol . . . Der andere lautet: „Werdens nur nicht übel, Herr Lehrer, daß mein Hans nicht in die Schulle kommen kann. Es geht wirklig nicht, denn er hat zuvill Kirschen gegeßen, rind da hat er das Zeug darauf bekommen, das sie wohl auch schon gehabt haben. Mit Gruß . . . - Das dickste Kind, das jemals gelebt haben dürfte, ist kürzlich in der Gesellschaft praktischer Aerzte zu Liban vorgestellt worden. Obwohl das Kind erst 14 Mo ¬ nate alt war, betrug sein Körpergewicht doch bereits 65 Pfund! Der Kopfumfang maß 52, der Brustumfang 76 Centimeter. Unmittelbar nach der Geburt zeigte der kleine Erdenbürger durchaus normale Verhältnisse; der unheim lich starke Fettansatz begann ohne nachweisbare Ursache im dritten Lebensmonat. Bei alledem läßt das Allgemein befinden des kleinen Herkules absolut nichts zu wünschen übrig. — Der Advokat Luigi Crispi, des ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten F. R. Crispi Sohn, ist in diesen Tagen vor dem römischen Appellhof im Abwesenheits verfahren zu 4 Jahren Zuchthaus verurtheilt worden. Er hatte der um gut 20 Jahre älteren Geliebten, einer Gräfin Cellere, den Schmuck im Werthe von 60000 Lire gestohlen und war flüchtig geworden. Seine Verbrecherlaufbahn be gann dieser famose Nechtsgelehrte damit, daß er vor bald 10 Jahren die amtliche Ausgabe der Gesetze und Verord nungen des Königreichs Italien in 24 prachtvollen, in Leder gebundenen Bänden, Eigenthum des Ministerums des Innern, „entlieh" und dann an einen Antiquar für 120 Lire ver kaufte. Vater Crispi mußte diese Bücherei für 800 Lire zurückkaufen, um einen Skandal zu verhüten. Ueber den Flüchtling Luigi berichtet die in Rio de Janeiro erscheinende Zeitung „Italia del popolo": „Der Sohn des italienischen Staatsmannes war seit drei Monaten Gast im Hause eines Italieners, der ihm Lebensunterhalt, Wohnung und Kleidung verschaffte; denn die 300 Lire monatlich, welche das Haus Fiorita ihm im Auftrage des Vaters auszahlte, verspielte er; auch machte er Schulden. Dieser Tage ist er nun durchgebrannt und hat das Weib seines Gastfreundes mit genommen; die pflichtvergeßene Frau ist Mutter von zwei Kindern. Kurze Zeit später ließ er seine Geliebte in einem weltverlaffenen Orte feige sitzen." Demüthige Liebe. Novellette von Franz Jvurdain. Deutsch von Wilhelm Thal. (Schluß.) m. Von den Galons, die noch immer ihre farbigen Pfeile aussandten, wanderte Leokadias Blick wieder zu dem Dvlman zurück, den sie in den Händen hielt. Leokadias machte sich an die Arbeit; doch während die Scheere schnell und leise die Fäden zerschnitt, setzten die Erinnerungen ihren Weg fort. Vor langer, sehr langer Zeit, im Jahre 1870, hatte Leokadia an einem schönen und sonnenhellen Tage durch die Glasthür, die die Werkstatt von dem Lager trennte, einen Kciegsschüler in den Laden treten sehen. Er hatte sich einen Säbel, Epanletten und eine Achselklappe ausge sucht. Um ein Käppi zu Prokuren, war er Herrn Pröbois in das Zimmer gefolgt, in dem die Näherinnen und Stickerinnen arbeiteten. Groß, schlank, elegant, trotz seiner schwarzen Wimpern und seines Schnurrbartes sanft und freundlich, erregte der junge Mann unter den Arbeiterinnen Sensation. Er gab Lächeln für Lächeln, Blicke für Blicke zurück, probirte zwanzig Käppis, bevor er den Platz verließ, und als er zu gehen sich entschloß, warf er hinter dem Rücken des Prinzipals im Fluge eine Rose hin, deren Stengel er bis dahin in den Zähnen gehalten hatte. Die Blume siel Leokadia auf den Schooß; diese hob bestürzt den Kopf, die Thür hatte sich geschlossen, der Kricgs- schüler war fort. Das junge Mädchen war wie geblendet, alles drehte sich vor ihren Augen. Die Rose war nicht für sie, sie war sicher für Melanie, die schöne Brünette, oder Ernestine, die gioße Blonde, bestimmt. Sie, die Häßliche, die Einäugige, der nie ein Mann ins Gesicht gesehen, die vor sich selbst erschrak, wenn sie sich in dein Spiegel sah, sie sollte von diesem hübschen, reichen, vornehmen jungen Mann bemerkt worden sein! Wo hatte sie nur ihren Kopf? Und sie begann ebenso laut zu lachen wie ihre Ge fährtinnen, die ihr zu ihrer Eroberung Glück wünschten. Und doch — nein, sie wurde wirklich toll — und doch — nein, cs war zu dumm — und doch, sie war allein, ganz allein in ihrem Winkel; die anderen Arbeiterinnen saßen am äußersten Ende der Werkstatt — und doch — er wird sich über sie lustig gemacht haben — und doch — man sieht so seltsame Dinge — und doch wenn sie der glänzende Kriegsschüler liebte? Dieser Zweifel, dieser quälende Zweifel hatte sie nie verlassen. Er hatte sie nicht eine Sekunde geschont; er folgte ihr in ihr kleines Zimmer, in die Garküchen, wo sie ihre Mahlzeiten einnahm, in die Werkstatt, überall und immer, bis in ihr Bett, wo sie keinen Schlummer mehr fand. Eine Fluth von Jugend und Leidenschaft war ihr ins Herz gestiegen, und ohne ihre Gefühle zu analhsiren, ohne an den nächsten Tag zu denken, hatte sie sich auf diese un sinnige Liebe gestürzt, wie ein durstiger Reisender sich auf eine frische Quelle wirft. Sie wurde sehr fröhlich, sang sentimentale Romanzen und kaufte ein Nesedatopf, um ihn vor ihr Fenster zu setzen. Ihre Freude war nicht von langer Dauer. Herr von Martillac, der neue Kunde des Hauses Pröbois, der glän zende Kriegsschüler, der sich bei dem Fabrikanten des Boulevard Haußmann equipirt hatte, bevor er zu seinem Regiment geeilt war, war bei Sedan verwundet worden. Leokadia las seinen Namen in den Zeitungen und ver brachte die endlosen Wochen der Belagerung in dumpfer Angst. Sie hatte jede Hoffnung verloren, ihn wiederzusehen, als sie unwillkürlich in den Laden blickte und dort einen Offizier bemerkte, der mit dem Prinzipal sprach und den Arm in einer Binde trug; es war Herr von Martillac, der, etwas blaß und immer noch sehr schneidig, mit seinem hoch gedrehten Schnurrbart und seinem klangvollen Lachen zehn Schritt von ihr entfernt stand. Am Abend hörten ihre Nachbarinnen sie wieder ein Liedchen trällern, und der Resedatopf, der seit dem Herbst gestorben war, wurde durch einen Geraniumtopf ersetzt. Nichts hatte seitdem die unfruchtbare Leidenschaft der Arbeiterin gestört, ebensowenig wie die monotone Einförmig keit ihres Lebens. Wenn Herr von Martillac nach Paris kam, so holte er sich von Herrn Pr^bois die Uniformen, deren er bedurfte, oder er schickte von der Stadt her, in der er in Garnison lag, seine Bestellungen. Ein neuer Galon auf dem Aermel lehrte Leokadia, daß der frühere Unterleutnant Carrisre machte. Als sie auf die Tunique ein neues Band nähte, an dem das Kreuz der Ehrenlegion hing, weinte sie vor Glück. Das Leben des armen Mädchens vermischte sich so, stumm und verborgen, mit dem des reichen und glücklichen Soldaten. Ihr Gedanke folgten ihm, sie war stolz auf seine Erfolge und glücklich über seine Freuden. Als Herr von Martillac sich verheirathete, sah sie, in der Menge verloren, ihn die Stufen der Kirche hernieder steigen, und sie blieb verzückt vor diesem prächtigen Kapitän stehen, auf dessen Arm ein junges Mädchen sich stützte, das unter dem englischen Spitzenschleier ganz rosig aussüh. Dennoch sang sie an diesem Abend, als sie nach Hause kam, nicht, und ihre Blumen warteten vergeblich, daß sie sie begoß. Diese Liebe war ihr ganzes Leben. Die Einäugige hoffte weder etwas, noch wünschte sie es; ihr schwerfälliger Verstand begriff übrigens nicht recht, was sie empfand, und instinktiv überließ sie sich dem zarten Gefühl, das ihr ganzes Wesen in Anspruch nahm. Da Herr von Martillac seit drei Jahren nicht mehr im Magazin erschienen war, so dachte Leokadia nicht mehr an ihn. Sie war glücklich über diese apathische Ruhe, die sie ein wenig an die Stille und das erfrischende Wohlbe hagen ihrer Rekonvaleszenz erinnerte. Plötzlich aber er stand in einer Sekunde wieder die ganze Vergangenheit; jetzt — das fühlte sie — war es aus, und rückhaltslos überließ sie sich ihrer Liebe! Das Knistern des feinen Tuches in ihren Händen, die Wärme der Uniform auf ihren Knieen, ein leiser Geruch von orientalischem Tabak, deil das Kleidungsstück ausströmte, die dumpfe Wärme des Gaslichtes versetzten sie in eine hypnotische Betäubung, in der sie sich von dem Blut, das ihr in regelmäßigen und dumpfen Schlägen in den Ohren summte, wie eingewiegt fühlte. Die Arbeit wurde an diesem Abend erst spät beendet, und Leokadia erreichte ihr Dachstübchen automatisch, ohne einen Blick auf ihre Umgebung zu werfen. Sie träumte mit offenen Augen und sah Herrn von Martillac hoch zu Roß, wie er, den Säbel in der Hand, den Chinesen nach sprengte, wie er sie mitleidslos niedermetzelte und dem Feinde eine Fahne entriß. Als er in sein prächtiges Haus heimkehrte, fielen ihm seine Frau und seine Kinder — hübsche, in Sammet und Seide gekleidete Kinder — um den Hals und theilten ihm seine Ernennung zum Obersten mit. Er wurde bald General, und sie, sie nähte die Stickereien am Kragen und um den Aermel. General! Welch' ein Glück! Wie gut würde er sich unter dem Federhut ausnehmen! General! Wenn er nur bis dahin nicht seinen Lieferanten wechselt! Wenn Herr Pröbois sie nur nicht fortschickt! So vergingen drei Monate, in denen sie wie im Para diese lebte. Eines Abends wollte die Einäugige eben fortgehen, als Herr Pröbois in schlechter Laune in die bereits leere Arbeitsstube trat- „Wenn Sie morgen früh kommen, brauchen Sie den Pelz nicht weiter zu füttern; machen Sie sich gleich an die Bestellung Bellanger." „Wird nicht mehr darauf gewartet?" „Verdammter Holzkopf, thun Sie doch, was man Ihnen sagt, und lassen Sie mich in Frieden. Herr von Martillac ist bei seiner Ankunft in Tonkin an der Cholera gestorben und braucht keinen Pelz mehr. Das ist sogar sehr unan genehm; einer der ersten und besten Kunden des Hauses. Verdammtes Laud! Halten Sie sich morgen dran, ich habe bis fünf Uhr ein Dutzend Käppis zu liefern." Die Arbeiterin grüßte Herrn PröboiS und verließ sehr schnell den Laden. IV. Leokadias Portiersfrau, die sie zwei Tage hinterein ander nicht hatte herunterkommen sehen, trotzdem sie sonst pünktlich wie eine Uhr war, glaubte, sie wäre krank. Sie ging hinauf und klopfte an die Thür, doch man antwortet nicht. Unruhig befragte sie die Nachbarn; doch niemand hatte die Arbeiterin gesehen noch gehört. Ein Schlosser wurde in aller Eile gerufen, und man brach die Thür auf. Alles war in dem kleinen Zimmer in Ordnung. Voll ständig angekleidet lag auf ihrem Bett die Einäugige; sie schien zu schlafen, doch der Körper war bereits eiskalt. Ein Becken, in dem noch einige Kohlen lagen, erklärte das Alltags drama, dessen trauriges Räthsel niemand zu lösen vermochte. Als man den Leichnam hochhob, fiel etwas aus den verkrampften Fingern der Todten und rollte bis zur Thür; es war eine Rose, die aber schon so trocken, so alt und schwarz aus sah, daß sie eher einem Stück Holz glich. Man achtete nicht darauf und einer der Anwesenden zertrat, ohne es zu bemerken, die Rose unter seinen Stiefeln.