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Synthese mit der Tradition hervorgehen kann, hat er nicht nur theoretisch, sondern vor allem praktisch, mit seinen Werken demonstriert. „Eine Erneuerung ist nur dann fruchtbar, wenn sie Hand in Hand mit der Tradition vor sich geht. Die lebendige Dialektik gebietet, daß Erneuerung und Tradition sich in einem gleichzeitigen Vorgang entwickeln und stützen. Es ist für einen Menschen der Gegenwart unmöglich, voll und ganz die Musik einer vorher gegangenen Epoche - in ihrem altmodischen Gewand und in einer Sprache, die man nicht mehr spricht - zu erfassen und ihren Sinn zu verstehen, ohne ein lebendiges Gefühl für die Gegenwart zu haben . . . Denn nur diejenigen, die wirklich lebendig sind, verstehen es, das wirkliche Leben derer zu entdecken, welche ,tot’ sind . . . Die wahre Tradition ist nicht Zeuge einer abgeschlossenen Vergangenheit; sie ist eine lebendige Kraft, welche die Gegenwart anregt und belehrt. . . Weit davon entfernt, die Nachahmung des Gewesenen zu bedeuten, setzt die Tradition die Realität des Dauernden voraus . . . Man knüpft an eine Tradition an, um etwas Neues zu machen. Die Tradition sichert auf solche Weise die Kontinuität des Schöpferischen.“ Eines der meisterlichsten, ja genialsten Werke Strawinskys ist das gemeinsam mit Alexander Benois geschaffene Ballett Petruschka, das 1911 in Paris uraufgeführt wurde und 1947 vom Komponisten nochmals überarbeitet, in der Instrumentation aufgelichtet, in der rhythmi schen Notierung vereinfacht wurde. Diese revidierte Fassung der Partitur bildet den ersten Teil unseres heutigen Konzerts. Ursprünglich hatte Strawinsky eine Art Klavier konzert schreiben wollen (erst in der Fassung von 1947 wurde die Verwendung des Klaviers ausgeglichen und überzeugender in das bisherige Klangbild eingefügt). Dabei war die Assoziation einer entfesselten Puppe enstanden, die „durch ihre diabolischen Sprünge das Orchester zur Verzweiflung bringt, das nun seinerseits ihr mit drohenden Fanfaren antwortet“. Dank des Interesses Djagilews an dem Werk nahm es bald Gestalt an als „choreographisches Schauspiel“, dessen Handlung uns in den Faschingstrubel eines Petersburger Jahrmarktes versetzt. Ein Gaukler, ein Schausteller, führt seine Puppen vor, eine Ballerina, einen Mohren und den russischen Kasper Petruschka. Sein magisches Flötenspiel bringt die Puppen zum Leben und Tanzen. Petruschka, der fast menschliche Züge besitzt, liebt die Ballerina, der jedoch menschliche Wärme fehlt. Sie hat sich ihrer seits in den grotesk und farbenfreudig aufgeputzten Mohren verliebt, der in unbeherrschter Eifersucht Petruschka mit seinem Schwert verfolgt und ihn schließlich tötet. Diese Tra gödie der Puppen spielt sich vor einem kontrastreichen, farbenprächtigen Hintergrund ab, der plastischen Schilderung eines Volksfestes. „Petruschka - das ist das Leben selbst! Seine ganze Musik ist von solch einem Schwung, solcher Frische, solchem Geist, solcher gesunden, echten Fröhlichkeit, solcher unaufhaltsamen Kühnheit erfüllt . . .“ - äußerte Nikolai Mjaskowski einmal, und Sergej Prokofjew stellte fest: „Petruschka ist in höchstem Grade unterhaltsam, lebensvoll, heiter, witzig und interessant“. Diesen Urteilen ist kaum etwas hinzuzufügen. Die Verwurzelung der burlesken Szenen „Petruschka“ im russischen Mutterboden ist offensichtlich und überall spürbar - im Musi kalischen wie in der ganzen „Atmosphäre“, die das Werk besitzt. Mitreißende Vitalität und gestische Schlagkraft sind nicht die geringsten Vorzüge der längst populär gewordenen Partitur, deren bekanntestes Stück wohl der kraftvolle und schwungvolle Russische Tanz ist. Groteske Sprünge und marionettenhafte Bewegungen kennzeichnen Petruschka (das Klavier ist bedeutsam an der Charakteristik dieser Puppe beteiligt). Als unberechenbar und aufbrausend wird der Mohr geschildert. Der Walzer ist parodistisch den „Steirischen Tänzen“ von Josef Lanner nachgebildet. Das bunte Jahrmarktstreiben ist durch eine flir rende, turbulente Musik stimmungsvoll wiedergegeben. Russische Volkslied- bzw. Volks tanzthemen prägen den Tanz der Ammen und der Kutscher. Ihre Melodien vermischen sich im Jahrmarktswirbel, bei dem auch Maskenaufzüge nicht fehlen. Am Schluß intoniert die Trompete ein letztes Mal - wie im „Till Eulenspiegel“ von Richard Strauss - das „neckende“ Thema des Helden. „Ich wollte, daß der Trompetendialog in zwei Tonalitäten am Schluß zeigt, daß Petruschkas Geist immer noch protestiert . . . Auf diese letzten Seiten war ich und bin ich noch jetzt stolz, mehr als auf irgendwelche andere Stellen der Partitur“, bekannte Strawinsky. Einem Werk des 28jährigen Komponisten folgt nach der Konzertpause eine Arbeit des 63jährigen Meisters, die dennoch stilistische Reminiszenzen an seine Sturm-und-Drang-Zeit, György Lebet, der Dirigent unseres heutigen Konzertes, wurde 1926 in Budapest geboren. Seine musikalischen Studien absolvierte er bei den Profes soren Pal Kadosa und Läszlö Somogyi. Er ist seit 1947 Dirigent und seit 1962 Generalmusikdirektor des Sinfonieor chesters des Ungarischen Rundfunks in Budapest. Außerdem konzertiert er ständig im Ausland (u. a. in Paris, Moskau, Tokio, Mailand, Palermo, Brüssel, Prag, Berlin, Warschau, Frankfurt/Main, München, Leipzig, Dresden, Wien, Linz, Bukarest). Zahl reiche von ihm dirigierte Schallplatten wurden bei Westminster, der Deut schen Grammophon-Gesellschaft, bei Supraphon und Qual i ton aufgenom- men. 1955 und 1962 wurde dem Künstler der Franz-Liszt-Preis verlie hen. Die Dresdner Philharmonie diri gierte György Lehel bereits im Jahre 1965 sowie im März und Dezember 1966. an die kühne Klanglichkeit und vulkanische Rhythmik etwa des „Sacre du Printemps“ auf weist: die Sinfonie in drei Sätzen, die 1945 im Auftrag der Philharmonie Symphony So ciety of New York entstand und von dieser ein Jahr später uraufgeführt wurde. Im Pro grammheft der Uraufführung schrieb Strawinsky: „Meine Sinfonie ist der New York Philharmonie Society als Dank für eine 20jährige Zusammenarbeit mit dieser hervor ragenden musikalischen Institution gewidmet. Der Sinfonie liegt kein Programm zugrunde, cs wäre vergeblich, ein solches in meinem Werke zu suchen. Doch es ist möglich, daß der Eindruck unserer schwierigen Zeit mit ihren heftigen und wechselnden Ereignissen, ihrer Verzweiflung und Hoffnung, ihrer unausgesetzten Peinigung, ihrer Spannung und schließ lich Entspannung und Erleichterung Spuren in dieser Sinfonie zurückgelassen hat“. Tat sächlich ist die Sinfonie, vor allem in ihren von leidenschaftlicher Dramatik und pathetischer Spannung erfüllten Ecksätzen, eine der wenigen Kompositionen des späten Strawinsky, in denen der Atem unserer Zeit deutlich spürbar wird. In dieser seiner wohl bedeutendsten und anspruchsvollsten Auseinandersetzung mit dem sinfonischen Zyklus verschmolz der Komponist rückschauend die verschiedensten Stationen seiner künstlerischen Entwicklung bis zum Ende des zweiten Weltkrieges zu überzeugender Einheit. Die musikalische Ent wicklung dieses sinfonische und konzertante Elemente miteinander vereinenden Werkes beruht auf einer „Verbindung und Vereinheitlichung klar umrissencr Themenblöcke und Klangflächen durch die Kontinuität einer sich logisch und organisch entwickelnden Gestal tungskraft“ (I. Dahl). Als sich Strawinsky bereits 1942 mit dem Gedanken trug, ein sinfonisches Werk Zu schrei ben, dachte er zunächst an ein Klavierkonzert. Nach Erhalt des Auftrages verwendete er die schon fertigen Teile bei der Sinfonie. So ist es erklärlich, daß im ersten Satz der Sin fonie, einer dreiteiligen Tokkata, dem Klavier virtuose solistische Aufgaben zugewiesen sind. Zu Beginn wird das gesamte musikalische Material des Werkes in konzentrierter klanglicher Form exponiert. Dann folgt ein kammermusikalisch aufgelockerter, polyphoner Durchführungsteil (mit solistischem Klavier). Im Schlußteil wird an die „Haltung“ des