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IGOR STRAWINSKY gilt in der bürgerlichen Musikwelt als der bedeutendste Komponist unseres Jahrhunderts. Er hat in seinem langen Leben mehrmals für schockartig wirkende Überraschungen gesorgt. Seit dem berühmten Theater Skandal bei der Pariser Uraufführung seines Balletts „Le Sacre du Printemps“ (Frühlingsopfer) im Jahre 7973 versetzte er durch manch einen plötzlichen Stilwechsel die Gemüter in Erregung. Eine seiner größten Überraschungen war aber seine positive Antwort auf eine Einladung des sowjetischen Komponistenverbandes, anläßlich seines 80. Geburtstages sein Heimatland zu besuchen, das er bereits 1914 verlassen und inzwischen nie wieder betreten hatte. Zwar nicht genau an seinem Ehrentag, aber einige Monate später dirigierte Strawinsky Ende September bis Anfang Oktober 1962 in Moskau und Leningrad mit großem Erfolg mehrere Konzerte mit eigenen Werken. Strawinsky hat eine lange und widerspruchsvolle Entwicklung durchmessen. Er stand im ersten Dezennium unseres Jahrhunderts jener Gruppe von russischen Künstlern nabe, die sich der engstirnigen zaristischen Kulturdiktatur widersetzten, den trockenen Akademismus im künstlerischen Schaffen ablehnten, mit den Ideen und Grundsätzen der französischen Impressionisten und Symbolisten liebäugelten und die Theorie der „reinen Kunst“ predigten, die von den „Fesseln“ gesellschaftlicher Forderungen unabhängig sein sollte. Und als der unternehmungslustige Kunstkenner Sergej Djagilew, eine der führenden Persönlichkeiten jener oppositionellen Künstler gruppe, in Paris groß auf gezogene F estveranstaltungen mit russischer Musik und russischen Balletten organisierte, in denen er die besten russischen Künstler, wie den Sänger Schaljapin, den Pianisten und Komponisten Rachmaninow, die Ballettkünstler Pawlowa, Karsawina, Nishinski, Fokin und viele andere auftreten ließ und damit ein unglaubliches Aufsehen erregte, begann auch der schnelle, steile Aufstieg des jungen Strawinsky. Djagilew beauftragte ihn mit der Komposition des russischen Mär- cbenballettes „Der Feuervogel“, und Strawinsky entledigte sieb dieser Aufgabe mit erstaun licher Virtuosität: Er schuf auf der Grundlage russischer Intonationen eine in allen Klang farben schillernde, brillante impressionistische Ballettmusik. Nach diesem Erfolg, der Strawinsky schlagartig weltberühmt machte, zog Djagilew den jungen Komponisten häufig zur Mitarbeit an seinen sensationellen „Ballets russes“ heran. Bereits 1911 folgte das russische Jahrmarktsspiel „Petruschka“ und 1913 „Le Sacre du Printemps“, ein Ballett, in dem heidnische Riten des alten Rußlands mit ungestümer Wildheit und raffiniert-aufrei zender Härte gestaltet wurden. Strawinsky hatte damit bereits den glitzernden Impressio nismus des „Feuervogel“ überwunden und gleichzeitig mit seinem Landsmann Sergej Prokofjew (Tokkata für Klavier, 1912) und dem Ungarn Bela Bartök (Allegro barbaro für Klavier, 1911) in Auflehnung gegen die Enge und Beschränktheit der vorherrschenden bürgerlichen Kunstauffassungen einen musikalischen Stil geschaffen, der durch die Ent ladung rhythmischer Energien, die Einführung verschiedenartigster metrisch-rhythmischer Unregelmäßigkeiten und polyrhythmischer Überlagerungen auf die Weiterentwicklung der Musik einen sehr großen Einfluß ausübte. Dabei war Strawinsky mit diesen Werken durchaus noch verbunden mit der Tradition der russischen Volksmusik und russischen Meistern wie Mussorgski, Borodin und auch seinem Lehrmeister Rimski-Korsakow. Auch in dem Ballett „Les Noces“ („Russische Bauernhochzeit“, 1914-1923), in der Geschichte vom Soldaten“ (1918) und einigen anderen Werken jener Zeit herrscht noch das russische Idiom in seiner Musiksprache vor sowie das Streben nach einer knappen, konzentrierten, alles Überflüssige vermeidenden musikalischen Ausdrucksweise, die ebenfalls für die weitere Entwicklung der Musik richtungsweisend war. Die Große Sozialistische Oktoberrevolution hatte inzwischen in Strawinskys Heimatland gesiegt und auch seinen weiteren Lebens- und Scbaffensweg entscheidend beeinflußt - wenn auch in negativem Sinne. Prokofjew erkannte während seiner jahrelangen Emigration schon bald, daß er als Künstler in der Fremde auf die Dauer verdorren würde; durch seine Rückkehr in die Sowjetunion im Jahre 1934 fand er den Weg zurück zu den heimat lichen Wurzeln und gleichzeitig vorwärts zur realistischen Kunst, ja zum sozialistischen Realismus. Strawinsky dagegen schritt konsequent in der umgekehrten Richtung: Er wurde Zum heimatlosen Kosmopoliten: zunächst in der Schweiz, dann in Frankreich und schließlich in den USA. Nach den aufsehenerregenden und in manchem Sinne sogar epochemachenden Werken seiner „russischen“ Periode überraschte Strawinsky seit dem Beginn der zwanziger Jahre mit Kompositionen, deren Haltung und Stil man etwas oberflächlich mit der Bezeichnung „Neoklassizismus“ zu charakterisieren pflegt. Im Gegensatz zu der starken Emotionalität solcher Werke wie „Le Sacre du Printemps“ oder „Les Noces“ sind seine Kompositionen seit den Balletten „Pulcinella“ (1919), „Apollon Musagete“ und „Kuß der Fee“ (1928) ganz bewußt leidenschaftslos, von einer glasklaren, handwerklich außerordentlich gekonnten Faktur, absichtlich unabhängig von jeglicher Bindung an die Volksmusik. Strawinsky erlebte zwei Weltkriege, er beobachtete die revolutionäre Umwandlung in seinem Heimatlande und später in anderen Ländern, er sah scharfe Klassenkämpfe in den imperialistischen Ländern. Aber er erweckte stets den Eindruck, als sei er nur ein leiden schaftsloser Betrachter, als gingen ihn die weltumspannenden Auseinandersetzungen gar nichts an. Er schrieb eine ganze Reihe von Werken, in denen er ganz bewußt jeglichen Gedanken- und Gefühlsinhalt mied. Daher auch seine Vorliebe für Ballette ohne jegliches Sujet, wie „Scenes de ballett“ (1938) und „Agon“ (1957). Außerordentliche Gewandtheit legte er in der Übernahme der verschiedenartigsten musikalischen Stilmittel der Vergangen heit an den Tag. In „Pulcinella“ bezog er sich auf die Musik Pergolesis, im „Kuß der Fee“ auf die Tschaikowskis, in anderen Werken auf die Jazzmusik, auf Bach, Weber, Gounod, die alte kirchliche Liturgie. Selbstverständlich verarbeitete Strawinsky die verschieden artigen Mittel und schmolz sie in ganz persönlicher Weise in seine eigene kühl-glasklare Musiksprache um. Wie er selbst bezeugte, holte er sich das Material für seine Stile aus den verschiedensten Quellen. In dem szenischen Oratorium „Oedipus Rex“ (1926f27) benutzte er lateinische Texte als rein phonetisches Material. Auch die Volksmusik interessierte ihn nur noch insoweit, wie er sie in melodischer, rhythmischer, harmonischer und koloristischer Hinsicht für seine Werke nutzbar machen konnte. Bei einer solchen Haltung war es schließ lich durchaus folgerichtig, daß er sich vor reichlich zehn Jahren der seriellen Schreibweise, der Dodekaphonie zuwandte, die er zuvor stets heftig bekämpft batte. So bieten Strawins kys Leben, seine Kompositionen und Schriften das sehr widerspruchsvolle Bild eines Musikers, der die Hauptricbtungen der Musik des imperialistischen Zeitalters mitbestimmte. Während seines Aufenthaltes 1962 in Moskau sprach der greise Komponist ein weises Wort aus, das von einer außerordentlichen geistigen Regsamkeit zeugt und viele Strawinsky- Verehrer, vor allem in westlichen Ländern, zum Nachdenken bringen sollte. In seiner Antwort auf eine freundschaftliche Begrüßung sowjetischer Berufskollegen sagte er wörtlich: „Ich bin aus dem zaristischen Rußland weggefahren, aus dem Rußland, das in der Kunst nichts Neues anerkennen wollte, und ich war froh, weggekommen zu sein. Als hier Ver änderungen vor sich gingen, war ich leider nicht dabei, sonst wäre ich wahrscheinlich mit Euch gewesen . . . Ich habe ein Volk voller Optimismus wiedergefunden und fühle mich verjüngt.“ Dieses vielleicht wichtigste Selbstzeugnis Strawinskys, das in so hohem Alter abgegeben wurde, bat nichts mit Resignation zu tun. Es ist das Eingeständnis, daß die gesellschaftliche Verhältnisse Denken und Handeln auch des Künstlers formen. Und das ist viel - sehr viel für den Künstler und Menschen Strawinsky. Prof. Dr. Eberhard Rebling ZUR EINFÜHRUNG Igor Strawinsky hat nahezu alle Gebiete der Musik mit Werken bereichert. Sein Schaffen ist durch beinahe rätselhafte Vielseitigkeit charakterisiert. Herausgewachsen aus einer Opposition gegen Schwulst, Unwahrheit und Sentimentalität in der Kunst, will Strawinskys Musik keine hypnotischen Rauschzustände auslösen, keine „allgemeinen Gefühle“ wecken. Sic bezieht ihre Wirkungen aus einer geschärften geistigen Disziplin, einer logisch-konstruk tiven Ordnung des musikalischen Materials, einer betonten Transparenz der Klanglichkeit und des Melodischen, das nicht mehr streng an die Dur-Moll-Tonalität gebunden ist, und vor allem aus einer rhythmisch-motorischen Vitalität, deren Anregungen aus der russischen Folklore und der Jazzmusik stammen. Dabei ist Strawinsky alles andere als ein Revolutionär der Musik - eine Unterstellung, gegen die er sich immer leidenschaftlich gewehrt hat. Was Strawinsky die Tradition bedeutet, der er eng verbunden ist, darüber hat er sich mehr fach geäußert. Und seine Überzeugung, daß die Kunst der Gegenwart nur aus einer