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KONGRESS-SAAL DEUTSCHES HYGIENE-MUSEUM Sonnabend, den 1. Oktober 1966, 19.30 Uhr Sonntag, den 2. Oktober 1966, 19.30 Uhr 4. AUSSERORDENTLICHES KONZERT Dirigent: Horst Förster Solist: Pierre Fournier, Frankreich, Violoncello Witold Lutoslawski geb. 1913 Sinfonische Variationen für Orchester Andante - Allegro Adagio Andante Allegro non troppo Erstaufführung Joseph Haydn 1732-1809 Konzert für Violoncello und Orchester C-Dur Moderato Adagio Allegro molto Erstaufführung Antonin Dvorak 1841-1904 PAUSE Konzert für Violoncello und Orchester h-Moll op. 104 Allegro Adagio ma non troppo Finale (Allegro moderato) Zum 125. Geburtstag des Komponisten am 8. September 1966 Pierre Fournier wurde im Jahre 1906 in Paris geboren. Er studierte am Konservatorium seiner Heimatstadt, dem er auch von 1941 bis 1949 als Lehrer angchörte. Später ließ er sich in Genf nieder. Seit seinem Debüt von 1925 führten ihn Konzertreisen durch die ganze Welt. In den letzten Jahren konzertierte er fast in sämtlichen Ländern Europas sowie in Nord- und Südamerika, Japan und Neuseeland. Pierre Fournier - einer der berühmtesten und markantesten der heute wirkenden Violoncellisten überhaupt - gilt insbesondere als hervorragender Interpret der Violoncellokonzerte und -Sonaten der Klassik und des 19. Jahrhunderts (insbesondere des Dvoräkschen Kon. zertes), gleichzeitig ist er auch ein vortrefflicher Kammermusikspieler (einige Zeit mit Joseph Szigeti und Artur Schnabel im Trio). Dem Künstler, der zum ersten Male in die DDR kommt, ist eine ganze Reihe von bedeutenden Cellowerken gewidmet worden, u. a. von Martinü, Poulenc, Martin, Rousscl, Schoeck und Martinon. Im Juni 1966 wurde er zum Mitglied der Jury für den Tschaikowski-Wettbewcrb in Moskau berufen. Vor genau einem Jahr, am 1. Oktober 1965, musizierte Pierre Fournier mit der Dresdner Philharmonie unter Prof. Horst Förster das Dvofäkschc Cellokonzert in Hamburg - eine Einladung nach Dresden nahm der Künstler spontan an. ZUR EINFÜHRUNG Der am 25. Januar 1913 in Warschau geborene Witold Lutoslawski ist der bedeutendste zeitgenössische polnische Komponist, darüber hinaus gehört er zu den profiliertesten heutigen Komponistenpersönlichkeiten Europas. Die Werke des aktiv im polnischen Komponistenverband wirkenden, 1958 als Mitglied der Jury der Internationalen Gesell schaft für Neue Musik tätigen Komponisten erklingen in den Konzert- und Rundfunk programmen der ganzen Welt und sind verschiedentlich auf Schallplatten aufgenommen worden. Jede neue Komposition Lutoslawskis wird in seinem Heimatland mit großer Spannung erwartet. Für sein Schaffen erhielt er mehrfach polnische und internationale Preise. Lutoslawskis Mutter war eine Ärztin, sein Onkel Wincenty Lutoslawski einer der hervor ragendsten Philosophen Polens. Schon in früher Kindheit wurde er im Klavier- und Violinspiel unterrichtet, im Alter von neun Jahren begann er bereits zu komponieren. Von 1924 bis 1927 studierte er Klavier bei J. Smidowicz, von 1927 bis 1932 Violine, dann wieder Klavier (bei Jerzy Lefeld) und Komposition (bei Witold Maliszewski, einem Schüler Rimski-Korssakows und Glasunows) am Warschauer Konservatorium. Gleich zeitig studierte er von 1929 bis 1931 Mathematik an der Universität Warschau. 1936 und 1937 erhielt er die Diplome für Klavier und Komposition. Lutoslawski lebt in Warschau und ist ausschließlich als Komponist tätig. Besonders nach der Befreiung Polens vom Hitlerfaschismus entfaltete sich sein kompositorisches Schaffen verstärkt. Es entstanden bisher sinfonische Arbeiten (u. a. eine Sinfonie, eine Ouvertüre, die Kleine Suite, das schlesische Triptychon für Sopran und Orchester, das Konzert für Orchester, die Trauer musik für Bela Bartök, Postludien für Orchester), Kammermusiken, Liederzyklen, Chor werke, Film- und Schauspielmusikcn. Lutoslawskis Kompositionen nehmen in der polnischen Gegenwartsmusik durch ihr eigenes, individuelles Gepräge eine besondere Stellung ein. Der Komponist, der sich vielen Gattungen, mit Ausnahme der Oper, zuwandte, arbeitet sehr langsam und genau. Er durchdenkt auch das geringfügigste Detail in der kleinsten Komposition höchst exakt. Betonte Konzentration der Aussage und Präzision der Form sind ihm ungemein wichtig. In den Jahren 1945 bis 1954 zeigte Lutoslawski starkes Interesse für die polnische Folk lore, deren Elemente er zu einer originellen Synthese mit einem kühnen, neuartigen har monischen und orchestralen Stil führte. Bartöks Einfluß war zu dieser Zeit besonders spürbar in seinem Schaffen, das seitdem einen merklichen Umbruch erlebt hat, der mit der erschütternden „Trauermusik für Bartök“ einsetzte. Die sehr persönlich geprägte Auseinandersetzung mit der Dodekaphonie schuf neue Ausdrucksmöglichkeiten. Die unser heutiges Konzert als Erstaufführung eröffnenden Sinfonischen Variationen ent standen in den Jahren 1936 bis 1938, entstammen also der frühen Schaffenszeit Lutos lawskis. Doch ist dieses Werk schon ein „echter Lutoslawski“: eine große Disziplin in der Konstruktion, eine originelle Erfindungsgabe besonders auf metrorhythmischem Gebiete (Polymetrik, Polyrhythmik), die raffiniert-effektvolle Instrumentation, die sou verän und differenziert den Klangapparat eines großen Orchesters beschäftigt und mit „Koloritebenen“ arbeitet sowie die starke Ausdruckskraft, der Intellektualismus und der künstlerische Geschmack weisen die Partitur dazu aus. Die Komposition besteht aus vier unmittelbar ineinander übergehenden Sätzen, in denen das eingangs (in der Soloflöte über Streicheruntergrund, dann in der Fortsetzung in den ersten Violinen) erklingende schlichte „Andante-E-Dur-Thema“ höchst mannigfaltig „ausgewertet“, „zerlegt“, „auf gefächert“ wird. Die teils kontrapunktisch-dichte, teils freizügige, jedoch stets virtuose Variationskunst Lutoslawskis erzeugt in dem Stück höchst originelle Ausdrucks- und Klangmöglichkeitcn, Ostinati, Klangtürme, ja -pyramiden. Von dem tonalen Zentrum E wird sich sehr weit entfernt, am Schluß mündet jedoch die musikalische Entwicklung wieder darin.